Das Lied des Raben

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Guinevere
Veröffentlicht: 13.07.2012 16:43
Aktualisiert: 13.07.2012 16:44
Memories
Thema Mut 2020
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Kurzbeschrieb:
Eine Hommage an meinen Lieblingsvogel den Raben. Sein Gesang mag in der Tat etwas anders anmuten, dennoch gilt der Rabe als Singvogel.

Text

Das Lied des Raben

Der Nebel legte sich über die Felder und der erste Raureif war bereits zu sehen. Würde jetzt die Sonne zu scheinen beginnen, betrachtete man für wenige Augenblicke ein Meer aus glitzernden Kristallen, ehe sie sich durch die Wärme des Sonnenlichts wieder in Wasser verwandeln würden. Doch der dichte Nebel war unbarmherzig und liess keinen einzigen Sonnenstrahl durch. Es war ein ausgesprochen kühler Oktobermorgen. Der Winter nahte mit grossen Schritten. Auch die Tiere bemerkten dies. Aus dem nahegelegenen Wald konnte man die verschiedensten Vogelstimmen hören. Wenn man zum Himmel aufsah, erblickte man hie und da bereits einen Vogelschwarm, der gegen Süden zog. 

Der Rabe sass auf einem dünnen Ast, ganz hoch oben im Baumwipfel einer grossen Tanne. Ein kurzer, heftiger Windstoss brachte ihn beinahe aus dem Gleichgewicht, was er jedoch mit federnden Bewegungen ausbalancieren konnte. Dem Raben wurde es aber bald zu blöd, ständig mit dem schaukelnden Ast mitzuwippen. Schliesslich breitete er seine nachtschwarzen Schwingen aus und wartete auf den nächsten Windstoss, der ihn forttragen würde. 

Federnd leicht und elegant glitt der Rabe durch die kühle Morgenluft und liess sich auf dem Ast einer alten Eiche nieder. Prüfend faltete er seine Flügel zusammen und begann sich aufzuplustern, da er frohr. Zufrieden sass er da und beobachtete von seinem Baum aus die anderen Tiere des Waldes. Die Eichhörnchen vertauten hektisch Vorräte für den nahenden Winter, während der Fuchs seine Beute in den Bau trug. Der Rabe dachte sich, wozu diese Unruhe? Er blinzelte kurz, da es nun doch ein einzelner Sonnenstrahl geschafft hatte, die dichte Nebeldecke zu durchbrechen, und döste weiter. Auf einmal gesellte sich ein Star zu ihm auf seinen Ast. Der Star war etwas kleiner als der Rabe, hatte jedoch ein ebenso schwarzes Federkleid, was nicht minder schön war als seines. Der Star musterte den Raben aufmerksam. Er schien wohl etwas Respekt vor dem grösseren Vogel zu haben. Schliesslich überwand sich der kleinere schwarze Vogel und fragte den Raben: "Es wird kalt. Du solltest uns auch mit in den Süden geleiten, Rabe." Der Rabe senkte daraufhin sein gefiedertes Haupt. "Ich kann nicht mit euch kommen, denn mein Platz ist hier." krächzte er. Der Star sah ihn verwundert an und antwortete: "Weswegen? Sobald der erste Schnee fällt, wird es kaum noch Nahrung haben. Und die anderen Tiere halten fast alle Winterschlaf. " Der Rabe schüttelte sich um sein Gefieder zu lockern. "Das ist es gerade. Es wird sehr still sein, wenn die Tiere im Winterschlaf sind. Auch die anderen Vögel sind beinahe alle fort. Im Frühling und Sommer lauschen die Menschen dem Gesang der Vögel, jedoch im Winter... Stille. Ich werde der Einzige sein, der für sie singt." Der Star hüpfte unruhig von einem Bein auf das andere. "Mein lieber Rabe, ich möchte nicht anmassend sein, doch scheinst du mir kein grosser Sänger zu sein." Vorsichtshalber wich der Star etwas weiter weg. Die Nähe des Raben schien ihm nach seinen Worten nicht mehr so zu behagen. Doch der Rabe zeigte keinerlei Anzeichen von Ärger oder Wut, im Gegenteil. Er blieb ganz ruhig und antwortete dem Star. "...und doch bin ich ein Singvogel, obwohl ich nie ein grosser Sänger sein werde. Die Menschen mögen die vollkommene Stille nicht. Mein Gesang wird ihnen in der dunklen Jahreszeit Trost spenden. " Der kleinere schwarze Vogel hörte dem Raben aufmerksam zu. "Ein edler Zug von dir, Rabe. Ich werde es dennoch vorziehen, mit meiner Gefährtin und den anderen Vögeln Richtung Süden zu ziehen. Wir sehen uns im Frühling wieder, wenn sich die Sonnenstrahlen wieder in den Tropfen des Morgentaus spiegeln werden." Der Star stiess sich mit seinen Beinen vom Ast ab und flog immer höher zum Himmel hinauf, bis er bei der lauten Schar anderer Vögel angelangt war. Der Rabe schaute ihm nach und sagte. "Ja, im Frühling werden wir uns wiedersehen." Er sagte dies mehr zu sich selbst als zu dem Star. Er sah dem davonziehenden Vogelschwarm noch so lange nach, bis er schliesslich am Horizont verschwand und der Rabe ganz allein zurückblieb. 

Die Wochen vergingen. Stille war eingekehrt. eines Morgens erwachte der Rabe, weil ihm etwas Kaltes auf das Gefieder tropfte. Er schüttelte sich kurz und bauschte seine dichten, nachtschwarzen Federn auf. Der Rabe blinzelte als er aus seinem Versteckt hervorlugte, denn das Tageslicht schien heute viel heller als sonst. Kein Wunder. Alles war von einer dichten, weissen Schneedecke überzogen. Er hüpfte von seinem Versteck aus auf einen nahegelegenen Ast und putzte sein Gefieder. Nur kurze Zeit später breitete der Rabe anmutig seine Flügel aus und flog davon. Er betrachtete von oben die tief verschneite Landschaft; er zog seine Kreise und sang dabei sein einsames Lied. 

Ende

Kommentare

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Am 19.07.2022, feather_writes
Voll schöner Text :)
du kannst echt gut schreiben!
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Am 28.07.2012, Guinevere
@white_squaw: Vielen Dank fürs Kompliment!
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Am 25.07.2012, white_squaw
wunderschön geschrieben. Man kann sich die Bilder lebhaft vorstellen.

Danke für die schöne Geschichte!