Der Brief

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MirSelber
Veröffentlicht: 12.02.2013 19:39
Aktualisiert: 12.02.2013 22:27
Kategorie: Humor
Tags: Brief, Streit, Beziehung
Magazin schreibdichfrei
Sternschnuppen und verborgene Schätze
(Band 1, 2017, Seite 76)
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Kurzbeschrieb:
Eine Geschichte, die davon handelt, wie man aus einer Mücke einen Elefanten macht.

Text

Meine Finger beben, als Phil mir den Brief reicht. Einen Moment lang starre ich unverwandt auf den Umschlag, dann lege ich ihn hastig auf den Küchentisch, als hätte ich mir am Papier die Finger verbrannt. Ich schlucke. Für einen kurzen Moment habe ich meine Zukunft in Händen gehalten, nun liegt sie vor mir auf der blanken Massivholzplatte. Meine Zukunft, auf einem DIN A4 zusammengefasst, in wenigen Worten formuliert.

Neben mir zieht Phil einen Hocker heran und lässt sich darauf sinken. "Und?", fragt er und tippt den Brief an. Ich schüttle den Kopf. "Möchtest du ihn nicht aufmachen?" Wieder schüttle ich den Kopf. Er lacht leise und schiebt mir den Umschlag zu. "Nun komm' schon. Mach ihn auf! Was kann schon passieren?"

Ich hebe ruckartig den Kopf und starre Phil an. "Was kann schon passieren?", wiederhole ich fast tonlos seine Worte. "Ich könnte die Prüfung nicht bestanden haben, das könnte passieren!"

Ich schiebe den Brief wieder von mir weg. "Dann habe ich das ganze Jahr umsonst gebüffelt, habe umsonst stundenlang Seite um Seite zusammengefasst! Umsonst! Hörst du? Umsonst!"

Phil antwortet nicht, sondern schiebt mir den Umschlag wieder zu. "Da", sagt er und legt mir meinen Brieföffner in die Hand. "Wenn du ihn nicht öffnest, erfährst du es nie!"

"Was, wenn ich nicht bestanden habe?", frage ich bange. "Dann finde ich keinen Job! Dann verarme ich und lande irgendwann in der Gosse!"

"Bleib auf dem Boden!", ruft Phil lachend aus und legt mir die Hand auf den Arm. Die Geste hätte wohl beruhigend wirken sollen, doch mich macht sie nur wütend. "Du nimmst das alles nicht ernst, oder?", fahre ich ihn an und ziehe meinen Arm weg. Phil mustert mich unsicher. "Natürlich nehme ich es ernst, Hannah", gibt er etwas irritiert zurück. "Aber es ist nur ein Brief. Ein simpler Brief."

"Für dich ist es vielleicht nur ein Brief, aber für mich entscheidet er darüber, was später einmal aus mir wird.", erkläre ich ihm mit sich überschlagender Stimme.

Phil stöhnt resigniert auf und fährt sich mit den Händen übers Gesicht. "Dann erklär' mir mal: Warum solltest du denn nicht bestanden haben?", fragt er betont ruhig und sieht mich eindringlich an. Ich kann es nicht austehen, wenn er das macht. Dann komme ich mir immer wie ein Kleinkind vor.

"Hör auf damit!", gebe ich statt einer Antwort zurück.

"Womit?"

"Ach egal!" Ich mache ein unwilliges Geräusch. "Du hältst es also für selbstverständlich, dass ich bestanden habe?", frage ich spitz und sehe ihn mit hochgezogenen Brauen an.

Phil mustert mich erstaunt. "Ja- ja, natürlich."

"Du ziehst es also gar nicht in Betracht, dass ich möglicherweise durchgefallen bin?"

"Nein, natürlich nicht! Warum sollte ich?"

"Nein, warum solltst du auch." Ich lache bitter auf. "Bei Hannah ist ja auch immer alles selbstverständlich! Hannah macht dies, Hannah macht das! Hannah macht es sowieso! Hannah wird es schon wieder gerade biegen!" Ich atme wütend durch die Nase aus.

"Ja, willst du denn durchfallen?", unterbricht mich Phil unwirsch.

"Nein, natürlich nicht! Wer will das schon?!"

Phil verwirft die Hände. "Ja, eben!"

"Nichts 'Ja eben'! Du verstehst mein Problem einfach nicht!", gebe ich aufgebracht zurück.

"Nein, ich verstehe es nicht!"

Einige Sekunden lang starre ich Phil stumm an, dann platzt es aus mir heraus: "Du siehst mich als selbstverständlich an!" Jetzt ist Phil so überrascht, dass er gar nichts erwidert.

"Siehst du, es stimmt! Deshalb hast du gestern auch nicht den Abwasch gemacht!", zische ich ihn stattdessen giftig an und fuchtle in Richtung Küche. Phil blinzelt entgeistert. Ja, jetzt habe ich ihn auf dem falschen Fuss erwischt. "Nein, der feine Herr musste sich zuerst das Tennis-Match ansehen! Das dreckige Geschirr einfach mal stehen lassen. Die Hannah macht's dann schon, wenn sie sich daran stört! - Ach ja, und du hast ja nicht mal daran gedacht, zu kochen!", gerate ich immer mehr in Fahrt. Ich sitze nun auf der Vorderkante meine Stuhles und deute anklagend mit dem Finger auf ihn. "Was hast du dazu zu sagen, he?"

Nun wird auch Phil zusehends wütend. "Was soll das jetzt plötzlich, Hannah? Ich hab dir gestern gesagt, dass ich den Abwasch nach dem Match mache!"

"Ja, das sagst du immer! Im Nachhinein hast du immer eine gute Ausrede auf Lager!"

Phil steht genervt auf. "Hannah, auf diesem Niveau müssen wir gar nicht erst anfangen."

"Nein, jetzt lauf nicht wieder weg! Das machst du immer, wenn wir diskutieren!", rufe ich ihm wütend hinterher, als er in die Küche geht.

"Das ist keine Diskussion, das ist einfach nur kindisch!", meint Phil nur, als wäre die Sache damit erledigt.

"Kindisch?! Jetzt hältst du mich also auch noch für kindisch?"

Von Phil kommt einzig ein resigniertes Seufzen. Oh, wie ich dieses Geräusch hasse!

"Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!", entrüste ich mich und folge ihm in die Küche. Er steht ans Waschbecken gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. Als er spricht, ist er sichtlich bemüht, mich nicht anzuschreien.

"Hannah, mach endlich diesen verdammten Brief auf und dann komm' mal wieder runter!

Ich schüttle aufgebracht den Kopf. "Jetzt versuch' nicht wieder abzulenken! Ich will das hier und jetzt ausdiskutieren!"

"Es gibt nicht auszudiskutieren!", ruft Phil schliesslich genervt aus, nimmt grob den Brieföffner, den ich noch immer wie ein Schwert in der Hand gehalten habe, geht zum Tisch und reisst den Umschlag mit einer unwirschen Bewegung auf.

"Hier! Siehst du?!" Er hält mir das Schreiben Zentimeter vors Gesicht. Bestanden, steht da in schwarzen Buchstaben.

Ich schlucke, weiche einen Schritt zurück. Mein Ärger ist verpufft. "Bestanden", sage ich mit kleinlauter Stimme. "Juhu."

Phil knallt das Blatt auf den Tisch, nimmt seine Jacke und verlässt wütend die Wohnung.

"Du könntest dich wenigstens ein bisschen für mich freuen.", rufe ich ihm beleidigt hinterher, doch die Tür ist schon ins Schloss gefallen.

Kommentare

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Am 15.12.2013, coolcat
Hannah ist also schon erwachsen!?
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Am 20.08.2013, MirSelber
Danke Euch für eure Rückmeldungen!

@Wonderworld_Queen: Ja, ich muss zugeben, begegnete mir Hannah in Wirklichkeit, wäre sie mir auch unsympathisch.

@philo_sophie: Herzlichen Dank für das Kompliment! Ich freue mich sehr, dass Dir die Geschichte gefällt. Umso mehr noch, da ich genau das - kurz, prägnant und treffend - beachsichtigt habe!

@coolcat: Phil ist Hannahs Freund/Ehemann/Lebenspartner/o.ä.. Ich dachte, das sei von der Geschichte her selbsterklärend, da es sich meiner Meinung nach um eine typische Diskussioon in einer Beziehung handelt.

@heihouu: Herzlichen Dank für das Kompliment! :)
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Am 28.04.2013, heihouu
Ich liebe die Geschichte! :-) Super geschrieben!
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Am 08.03.2013, coolcat
Die Geschichte ist sehr gut geschrieben. Aber wer ist Phil?!
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Am 12.02.2013, Wonderworld_Queen
Ich finde du hast gut geschrieben wobei ich mich ein wenig über Hannah aufrege. Sie ist so richtig hysterisch und solche Menschen mag ich nicht aber ich finde du beschreibst die Situation total gut