Ever a Moment, die Entscheidung 4.
Text
4.
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ucia und Sebastian hielten ihre Pferde an. Vor ihnen erstreckte sich das Taramo-Gebirge. Bereits vor einigen Wochen hatten sie sich dazu entschieden, über das Gebirge nach Tarmi zu reiten. Später würden sie sich an einer Flussbiegung erneut für einen Weg entscheiden. Doch diese Entscheidung hatten sie bisher vor sich hergeschoben.
Lucia hoffte, dass Sebastians Palastpferd gebirgsgängig war. Um Silver brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Der Hengst wuchs auf einem kleinen Gebirgsbauernhof auf.
Der Prinz wandte sich ihr zu.
«Bereit?»
Sie nickte. Er trieb seinen Hengst an und übernahm die Spitze. In einem gemütlichen Trab ritten sie dem Trampelpfad entlang nach Norden.
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Am frühen Morgen sass Clare mit ihren Freunden um ein Lagerfeuer. Der Vampirfürst hatte sie vor wenigen Augenblicken verlassen. Einige Meter entfernt spielte jemand auf einer Violine. Es war eine fröhliche Melodie, die so gar nicht zu ihrem Ziel passte. Einen Augenblick lang hörten sie zu, dann fragte Chase Sam:
«Bist du in Marlosh Musik begegnet?»
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Assassinen, beim Gedanken an die früheren Jahre.
«Ich war eine Zeitlang in Welor in Shatou. Jede Woche war dort Markt, da gab es jeweils reichlich was zu holen.»
Erst jetzt wurde Clare bewusst, dass Sam auch ein Dieb war. Ihr Kopf hatte diese Tatsache bisher verdrängt. Er selbst hatte nie ein Wort darüber verloren und sie hatte das Thema nie angesprochen. Doch wie hätte Sam auch sonst auf den Strassen überleben sollen, wenn er nicht auf den Strich hatte gehen wollen.
«Auf diesem Markt gab es immer eine kleine Gruppe von Musikern, die miteinander spielten. Sie spielten ganz verschiedene Lieder, von einem traurigen Walzer, bis zu einer schnellen fröhlichen Melodie.»
Einen Moment sann er in Erinnerungen, dann erzählte er weiter: «Oft bin ich stehen geblieben und hab ihnen eine Weile zugehört. Dabei hatte ich zwar so manche Beute verpasst, doch das war mir egal.
Und einmal, da war ich in der Nähe von Hunter, nur wenige Wochen bevor mein Meister mich zu sich nahm, hörte ich wunderschöne Musik. Ich folgte ihr bis zu einem grossen Gebäude. Es war dreistöckig und im obersten Stock war ein Fenster offen. Weil es mich wundernahm, woher die Musik kam, kletterte ich hoch und blickte hinein.
Ein riesiger Saal war unter mir. Viele Bänke, alle gefüllt, und ganz vorne war eine Bühne auf der ein gesamtes Orchester spielte!»
Seine Augen glänzten, während er sich zurückerinnerte.
«Ich habe gehört, dass es vor dem Krieg in Shatou Unmengen solcher Konzerte gegeben haben soll», meinte Chase.
«Was ist mit ihnen passiert?», wollte Clare wissen.
«Ich weiss es nicht», erwiderte er. «Das Einzige, was ich gehört habe, ist, dass sich die Musiker gegen den König auflehnten.»
Die Stimmung trübte sich. Sie konnten erahnen, was dies bedeutete. Bereits zu Beginn des Krieges vor 400 Jahren, hatte der König von Saltorsh nicht den leisesten Widerstand gegen seine Herrschaft geduldet.
Später als sie sich schlafen gelegt hatten, sie reisten in der Nacht weiter und schliefen am Tag, damit ihre Begleiter die nötige Energie sparen konnten, murmelte Clare:
«Sam?»
«Hm?»
Sams Stimme hörte sich müde an. Neron hatte kurz den Kopf gehoben, entspannte sich auf Clares Zeichen jedoch gleich wieder.
«Es tut mir leid, dass ich dich zu Beginn Kindchen nannte. Ich war blind und hatte nicht erkannt, dass du wohl bereits erwachsener bist als andere, die doppelt so alt sind wie du.»
Er griff nach ihrer Hand und drückte sie.
«Macht doch nichts. Du warst nervös und nicht bei dir. Das wäre jeder in deiner Situation gewesen.»
Clare erwiderte den Händedruck. Sam gab ihr einen sanften Kuss.
Am nächsten Morgen waren sie zum Aufbruch bereit, als ein tierischer Schrei ertönte, wahrscheinlich mehrere Kilometer entfernt. Einer der Schirale erwiderte den Ruf.
«Sedro kommt», erklärte Clare ihren Freunden. Neron kam zu ihnen um in der Nähe seiner Königin zu sein, da nun weitere Leute kamen, die eine potenzielle Gefahr für sie darstellten. Der noch junge Teufelstiger nahm seine Aufgabe als Wächter sehr ernst.
Ein paar Minuten später landete der Schiral vor ihnen. Begleitet wurde er von circa fünfzig weiteren Kreaturen der Nacht. Sofort verbeugten sie sich vor ihrer Königin.
Clare bedeutete ihnen aufzustehen und stellte ihre zwei Begleiter vor, die nicht zu den Kreaturen der Nacht gehörten. Es dauerte eine Weile, bis sich alle miteinander bekannt gemacht und begrüsst hatten.
Dann marschierten sie endlich weiter.
Tarmi entgegen.
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Über der Ebene vor Tarmi war die Nacht eingebrochen. Soldaten hatten sich zum Ausruhen hinter die Stadttore zurückgezogen. Manche waren an eine Wand gelehnt eingeschlafen, während sich andere auf den Boden gesetzt hatten und sich gegenseitig die Wunden versorgten.
Im Krieg wurden kleine Rivalitäten und Streitereien gleichgültig. Jeder half jedem in der eigenen Armee, denn es konnte sein, dass niemand von ihnen den nächsten Sonnenaufgang erlebte.
Wieder andere Soldaten hatten sich auf den Weg ins Schloss gemacht, um etwas Essen zu holen oder in einem Bett schlafen zu können.
Im Schloss stand Celestine am Fenster in einem der Gänge. Von ihrer Position aus hatte man einen guten Blick über das Schlachtfeld. Sie sah all die Leichen, die herum lagen und Gestalten, die zwischen ihnen umherhuschten. Einzig an der weissen Binde um den Oberarm war zu erkennen, dass es sich dabei bei einigen um Heiler handelte.
Das Mädchen drehte den Kopf, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Vivien war zu ihr getreten. Eine ihrer Retterinnen.
«Schau nicht hin», bat die Hexe.
«Was machen die Leute dort?», wollte Celestine wissen.
«Sie schauen, ob die Soldaten tot sind. Wenn nein werden sie zu den Sirenen gebracht, wenn ja, brechen sie die Hälfte der Marke des Soldaten ab und nehmen diese mit. Waffen und Uniformen werden später eingesammelt und an die Lebenden verteilt.»
Sie holte eine Kette mit einem grossen Anhänger dran unter ihrem Hemd hervor.
«Das ist eine Marke. Siehst du die Einkerbung durch die Hälfte der Marke? Hier wird sie gebrochen, wenn der Soldat stirbt. Die eine Hälfte bleibt beim Reich, für das der Soldat kämpft, die andere geht an die Angehörigen des Soldaten.»
Das Mädchen fuhr vorsichtig mit dem Finger über die Marke.
«An wen würde deine Hälfte gehen?»
«Ich weiss es nicht. Meine Verwandtschaft ist tot. Am wahrscheinlichsten an Randa, da sie meine Zirkelführerin ist.»
Sie nickte. Schliesslich traute sie sich zu fragen: «Wie ist deine Familie gestorben?»
«Ich war Einzelkind. Meine Eltern waren bereits alt, als sie mich kriegten. Sie starben vor vierhundert Jahren an Altersschwäche.»
Einen Moment war es ruhig und beide starrten aus dem Fenster. Beobachteten wie die Männer und Frauen auf dem Schlachtfeld von Leiche zu Leiche gingen und eine Hälfte der Marke abbrachen, um sie dann in die Tasche zu den anderen fallen zu lassen. Einer der Männer, ohne weisse Armbinde, hob eine Hand und rief. Gleich darauf eilten Heilerinnen zu ihm.
Er hatte einen Lebenden entdeckt.
Vivien nahm die Hand von Celestines Schulter und meinte zu ihr: «Geh schlafen.»
Noch bevor das Mädchen protestieren konnte, drehte sich die Hexe um und ging weg.
Am nächsten Morgen schneite es dicke Flocken. Ein Segen und Fluch zugleich.
Ein Segen, weil der Pulverschnee die Kinder von den Ereignissen ausserhalb der Stadtmauern ablenkte. Ein Fluch, weil der Schnee zusätzlich an den Kräften der Pferde und Soldaten zerrte. Bald mussten sie sich ihren Weg durch ein Gemisch aus Matsch, Blut, Leichen und Schnee erkämpfen. Es würde ein langer Tag werden.
Celestine hatte es sich zur Aufgabe gemacht zu den Kindern zu schauen. Besonders die Hunde mochte sie, auch wenn die kleinen Meeresteufel ebenfalls süss waren mit ihren grünen und blauen Schuppen. Immer wieder streifte ihr Blick über das Schlachtfeld vor den Stadtmauern.
Trotz der Schrecken und dem Blut, welches dort herrschte, konnte sie sich nicht davon abhalten. Zu gross war ihre Sorge um ihre Freunde, die sie in den Wochen des Marsches gewonnen hatte.
Einer der Wölfe begann zu winseln und das Mädchen machte sich auf den Weg, um sich um den Welpen zu kümmern.
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