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Sie hätten es verdient

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Travelgirl
Veröffentlicht: 14.11.2022 20:20
Aktualisiert: 14.11.2022 20:20
Kategorie: Dies & Das
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Seine Augen leuchten schelmisch auf, als sie über seine Aussage lächelt. Auch über die Gesichter der beiden Töchter huscht ein Grinsen. Zu viert sitzen sie am abgenutzten Kunststofftisch auf durchgesessenen Sofas und schieben sich mit routinierten Fingerbewegungen Reis in den Mund. Draussen ist es bereits dunkel. Die Sonne taucht hier früh ins Meer und hinterlässt den Bewohnern eine schützende Dunkelheit, die alle Wunden verblassen und die Grenzen verschwimmen lässt. Das sich sanft herabsenkende Licht der dürftigen Strassenlaternen erhellt kaum die wichtigsten Punkte und schon gar keine Ecken und Kanten. Es wird nicht lange dauern, bis die Lichter ganz erlöschen. Schon mehrere Monate ist es her, seit der Strom die ganze Nacht lang verfügbar war. Schon seit mehreren Monaten sind Schlangen vor den Tankstellen eine Alltäglichkeit. Mehrere Tage ist es her, seit der Vater ein paar Rupien nach Hause gebracht hat. Seit jemand Geld für eine Tuktukfahrt aufbringen konnte. Seit mehreren Monaten verschickt die Tochter Bewerbungen. Erfolglos. Seit mehreren Monaten steigt die Arbeitslosenrate. Kontinuierlich. Seit mehreren Monaten ist auch die jüngere Tochter zuhause. Erhält Fernunterricht, solange es Strom gibt. Unregelmässig. Seit mehreren Monaten sucht auch die Mutter nach einem Job. Damit wenigstens ein kleines Monatseinkommen den Lebensunterhalt sichert. Unmöglich. Seit mehreren Monaten erhalten sie ein wenig Gemüse von den Verwandten. Kein halbes Kilo pro Woche. Seit mehreren Monaten legen sie zur Seite, was zur Seite gelegt werden kann. Nichts. Und wenn dann doch etwas gespart wurde, reicht es trotzdem kaum für einen Sack Reis. Inflation. Seit mehreren Monaten gibt es nur noch eine Mahlzeit pro Tag. Für jeden gleich viel, wenn nötig verzichten die Eltern. Seit mehreren Monaten geht es jeden Tag nur um eines: überleben. Nicht allzu hungrig schlafen zu gehen. Irgendwie etwas Geld verdienen. Und den Töchtern eine Ausbildung ermöglichen. Dafür würde sie der Vater sogar wegschicken, weit weg, in ein fernes Land, wo er hofft, eine gute Arbeit für die jungen Frauen zu finden. Und weil das nicht geht, sucht er selbst nach einem Job. Weit weg. Er würde die Familie verlassen, um seinen Töchtern eine Perspektive zu bieten. Sorgen um die Zukunft ihrer Töchter plagen die Eltern. Sorgen um die mentale Gesundheit ihrer Eltern plagen die Töchter. Lassen die Familie schlecht schlafen, bevor sie früh morgens wieder aufstehen und doch keinen Grund dazu haben, denn es wartet schon wieder ein Tag voller erfolglosen Bemühungen auf sie.

Doch noch sitzen sie zu viert am Tisch. Sind froh über den Reis, den die Mutter gekocht hat und dankbar für die Kartoffeln, die in ihrem Garten gewachsen sind und die sie in einer Woche ernten können. Schieben die vielen Sorgen für einen Moment zur Seite und lächeln gemeinsam. Weil sie immer weiter kämpfen. Die Hoffnung für ihr Land nicht aufgeben. Dass am nächsten Morgen die Sonne wieder aufgeht, die Lichter zwar löschen, aber am Abend wieder angehen. Wieder angehen, um die Schönheit ihrer Heimat zu beleuchten. Und dann an bleiben. Denn sie hätten es verdient. Sie alle hätten es sowas von verdient, dass ihr Licht für immer bleibt.

Kommentare

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Am 23.11.2022, Wolf16
Hallo Travelgirl
Richtig schöner Text über ein ernstes Thema, das du nur mit ein paar Zeilen greifbarer machst.
Freundliche Grüsse
Wolf16
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Am 18.11.2022, Nebula
Hallo Travelgirl,
Wirklich beeindruckend! Dein Text ist richtig schön und hat mich so was von berührt…
Ich freue mich auf weitere Geschichten von dir!
Nebula