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Herbst

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Amanda_8
Veröffentlicht: 06.10.2021 22:37
Aktualisiert: 07.10.2021 21:49
Kategorie: Dies & Das
Tags: Herbst
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Text

Es war Dienstag, ein leicht kühler Dienstag, an dem sich die Ersten bereits ihre Jacken anzogen, als Hannah das Mädchen zum ersten Mal in diesem Jahr sah. Es lugte hinter einem Baumstamm im Park hervor, als würde es sich nicht sicher sein, ob es hervorkommen solle. Ob es hier richtig wäre. Hannah lächelte und schüchtern lächelte das Mädchen zurück. 

In den nächsten Tagen dachte sie nicht mehr an die Begegnung. Es standen viele Hausaufgaben an, ein Vortrag musste vorbereitet und ihre Facharbeit geplant werden. Doch das Thermometer zeigt an, dass etwas angefangen hatte, dass sich nicht mehr umkehren ließ. Langsam aber sicher sank die rote Flüssigkeit erst auf zwanzig Grad, dann immer weiter runter, bis sie bei der Fünfzehn stoppte. Von nun an sah Hannah das Mädchen häufiger. Manchmal lief es auf der anderen Seite der Straße entlang und ihre kastanienbraunen Haare glänzten im warmen Spätsommersonnenlicht. Oder es hockte allein in einem Sessel der Schulbibliothek und ließ ihre haselnussbraunen Augen über Buchseiten schweifen, während es draußen regnete. 

So seltsam es auch scheinen mag, es überraschte Hannah nie, wenn sie das Mädchen sah. Sie beobachtet es schon seit Jahren und mit der Zeit bildete sie sich ein, es zu kennen. Ein bisschen jedenfalls. Hannah wusste, dass es heißen Tee und Apfelkuchen liebte. Das bestellte es immer im Café gegenüber der Schule. Außerdem war das Mädchen schüchtern, es sprach nie mit jemanden, auch wenn sie immer freundlich wirkte. Tatsache hatte Hannah das Gefühl, dass außer ihr nie jemand das Mädchen bemerkte. Aber vielleicht lag das an ihrem unscheinbaren Auftreten. Man konnte es wirklich schnell übersehen, doch Hannah tat es nie. Über die Jahre war ihr Auge darauf geschult die leicht braune Haut, die Haare und das Lächeln zu erkennen. Das Lächeln. Hannah kannte kein herzlicheres als das dieser hagebuttenroten Lippen. 

Sie wollte das Mädchen schon lange näher kennenlernen. Doch irgendwie entwischte es immer, wenn sie sich vornahm es anzusprechen. Als wolle es einem Gespräch aus dem Weg gehen. Stattdessen hinterließ es kleine Geschenke an den Orten, an denen sie gewesen war. Hannah sammelte sie heimlich auf. Es war bereits eine ganze Sammlung geworden. Da war eine glänzende Kastanie, die Hannah immer in der Jackentasche trug, weil sie so gerne mit den Fingern über die glatte Oberfläche strich. Da war eine Walnuss, vier Eicheln, ein Steinpilz, zwei Äpfel und eine Menge Blätter. Wunderschöne Blätter. Manche rot, andere gelb oder sogar beides. Hannah presste sie unter einem Stapel von Büchern in ihrem Zimmer. Das Beste aber war eine Feder. Oben, an der Spitze, schimmerte sie blau und Hannah hängte sie an ihren Traumfänger. 

 

„Was machst du da?“, fragte ihre Freundin sie, als Hannah beiläufig ein gelbes Lindenblatt von der Bank aufhob, auf der das Mädchen gerade noch gesessen hatte. Ihr Mantel hatte genau die gleiche Farbe gehabt wie das Blatt, ein dunkles, warmes gelb. Hannah mochte die Farbe.

„Mhmm?“ Sie blickte ihre Freundin leicht verwirrt an. Diese verdrehte die Augen, winkte aber ab. Schweigend gingen sie weiter. 

„Was hältst du eigentlich von der Farbe gelb?“, wollte Hannah nach einer Weile wissen. 

„Äh… ja. Ist halt eine Farbe. Für meinen Geschmack etwas zu grell.“

„Ich meine so ein warmes gelb, wie von manchen Sonnenblumen. Die Farbe des Mantels von dem Mädchen vorhin.“

„Welches Mädchen?“

„Das auf der Bank." Kurze Pause. „Du weißt schon, dass aufgestanden ist, kurz bevor wir vorbeikamen.“

Die Freundin schüttelte den Kopf. „Da war niemand.“

„Aber…“ Hilfesuchend blickte sie in das Gesicht der Freundin, fand dort aber nur Verwirrung. Sie stieß die Luft aus und murmelte „Auch egal.“ Schweigend trotteten sie weiter. 

Das Gespräch ging ihr nicht mehr aus dem Kopf und auf einmal wurde ihr klar, dass sie nun wirklich mit dem Mädchen reden müsse. Das ging doch nicht, immer abhauen, rätselhafte Kleinigkeiten zurücklassen und damit andere Leute verwirren! Jetzt wollte sie Antworten. Am nächsten Morgen, einem nebeligen Donnerstag, passte Hannah das Mädchen auf dem Schulweg ab.

„Hey!“, rief sie, als das Mädchen wieder einmal davonhuschte. Zögernd blieb es stehen und Hannah holte keuchend auf. 

„Hi. Ich wollte mit dir sprechen.“

Ein schüchternes Lächeln. „Hi.“ 

Die Stimme des Mädchens klang anders, als sie es sich ausgemalt hatte und passte doch perfekt. Sie war eher tiefer, warm und ein wenig wispernd. Wie der Wind, wenn er noch leise pustet bevor das laute Heulen losgeht.

„Ich beobachte dich schon lange. Wollen wir uns nicht setzen?“ Sie deutete auf die Bank von neulich. Sie setzten sich. Schweigend saßen sie da und Hannah hatte vergessen, was sie sagen wollte. Das geschah ihr immer mal wieder und es war ihr peinlich.

„Also, äh…“, stammelte sie nach einer Weile unbeholfen. Zu ihrer Überraschung ergriff das Mädchen das Wort.

„Du bist das Mädchen, dass gerne Kastanien sammelt, oder? Du steckst sie immer in deine Tasche.“ Hannah wurde rot doch das Mädchen lächelte herzlich. „Ich liebe Kastanien auch, weißt du. Sie haben eine wunderbare Farbe, braun mit diesem roten Glanz.“ Die Farbe deiner Haare, dachte Hannah. 

„Und du bist die, die immer Apfelkuchen mit Kräutertee bestellt.“

Sie sahen sich an und lachten beide. Sie begannen zu reden und es fühlte sich vertraut an. Als würde Hannah sie wirklich bereits kennen, was sie ja vielleicht auch tat. Wenn man jemanden kennen konnte, dessen Namen man nicht wusste und mit dem man sich das erste Mal im Leben unterhielt. Irgendwann während des Gesprächs wurde Hannah nachdenklich und betrachtete ihr Gegenüber. Sie kam ihr alles andere als unscheinbar vor.

„Was ist?“, wollte das Mädchen wissen.

Hannah sah ihm in die Augen. Haselnussbraun blickten sie zurück. „Hat dir schon mal jemand gesagt, wie wunderschön du bist?“

Das Mädchen schwieg und blickte zu Boden. Vielleicht konnte es mit Komplimenten nicht umgehen. Oder es war zu bescheiden. Schüchtern. „Weißt du, ich mag dich wirklich. Du bist herzlich und nett. Du hast einen Sinn für Ästhetik und lächelst gerne“, schob Hannah hinterher, der die Stille unangenehm war.

„Danke.“ Das Mädchen sprach leise. Dann hob es den Blick wieder, als habe es entschlossen, dass der Schotter doch nicht so interessant anzusehen wäre. „Die meisten mögen mich eher nicht so oder beachten mich nicht. Ich bin ihnen zu unnahbar, zu triste. Manchmal habe ich Tage, da bin ich einfach nur… grau. Das mögen die Leute nicht. Sie mögen es nicht gerne nachdenklich oder so. Für sie ist bunt und hell besser. Alles soll schön einfach und fröhlich sein. Schnelles Glück, weißt du?“

Hannah schüttelte ratlos den Kopf. „Aber du bist doch bunt. Und fröhlich.“

Das Mädchen zuckte die Schultern und ließ die Beine baumeln. Dann wechselte sie das Thema. „Hast du Geschwister?“

Hannah erzählte von ihrem jüngeren Bruder und ihrer Schwester. Wie alt sie waren, was sie gerne machten… „Und du?“, fragte sie schließlich. „Hast du welche?“

„Ja. Drei. Ich bin die zweitälteste.“

„Wie sind sie so? Ähneln sie dir?“ Wenn, würde sie sie gerne kennenlernen.

Das Mädchen lachte leise, als habe Hannah einen Witz gemacht. „O nein, ganz und gar nicht. Wir sind sehr verschieden.“ Kurz schwieg es, dann begann es zu erzählen. „Meine Schwester ist die Jüngste von uns. Sie ist zierlich und unheimlich neugierig. Manchmal auch ziemlich launig. Aber sie sprüht vor Lebendigkeit, kann kaum stillbleiben.“

„Also das Gegenteil von dir.“

„Ja. Nein. Also etwas.“ Das Mädchen machte eine nachdenkliche Pause. Dann fügte es hinzu „Wir malen beide gerne. Ich bevorzuge Braun-, Gelb- und Rottöne, sie eher grün, weiß und rosa. Zarte Farben, die nicht ganz zu ihrem Charakter passen. Obwohl…“ Sie zuckte mit den Schultern. „Das Malen verbindet uns jedenfalls“

Hannah nickte. „Und die anderen?“

„Zwischen meiner Schwester und mir kommt noch einer meiner Brüder. Er ist sehr gesellig, lacht viel und oft, hat eine unglaubliche Ausstrahlung… Er ist sehr beliebt, weißt du?“

Hannah nickte. Sie kannte Leute wie ihn.

„Er liebt Partys und das Meer und überhaupt. Und dann ist da noch mein ältester Bruder. Er ist sehr… Schwierig. Alles in allem bevorzugt er die Einsamkeit und er kann ziemlich hart werden. Aber das ist er nicht nur. Ich mag ihn, er ist auch eher still. Und abends, am Kamin, mit ein paar Freunden oder der Familie blüht er richtig auf.“

Hannah dachte nach. „Du hattest recht. Ihr seid wirklich komplett verschieden. Wie kommt ihr nur miteinander klar?“

Sie lächelte versonnen. „Wir sind halt Geschwister. Wir gehören zusammen. Und wenn es Stress zwischen uns gibt, schlichte ich meistens.“

„Mhm…“

Sie ließen beide die Gedanken schweifen. Auf einmal fuhr Hannah hoch. „Die Schule! Ich muss los, ich habe die Zeit total vergessen, wir haben doch in der Ersten Englisch und… Egal, ich muss los.“

Das Mädchen nickte. „Auf Wiedersehen…“

„Ja, lass uns mal wieder reden, es war wirklich angenehm.“ Dann hastete Hannah los. Nach ein paar Schritten hielt sie inne und drehte sich noch einmal zu dem Mädchen um, dass einsam auf der Bank saß und an einer Haarsträhne spielte.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte sie.

Das Mädchen blickte auf. Ihre Augen strahlten warm. Haselnussbraun. Und ihre Lippen verzogen sich abermals zu einem Lächeln. Wie zwei Hagebutten. „Ich bin Herbst. Und du?“

Perplex stand sie da. Welch ein ungewöhnlicher Name… Herbst. „Ich heiße Hannah.“, murmelte sie. 

„Du verpasst deine Englischstunde.“, bemerkte Herbst. 

„Stimmt. Mist.“ Sie rannte los. „Tschüss!“, rief sie noch über die Schulter zurück.

„Auf Wiedersehen“, wisperte Herbst.

 

Hannah sah Herbst nie wieder. Und doch kam sie jedes Jahr erneut wenn der Sommer kühler wurde und sich ihr Bruder zurückzog. Die Haselnüsse an dem Baum neben der Schule. Die Hagebutten. Wie ein Lächeln. Und die Kastanien überall. Braun mit rotem Glanz. Auch die tristen Tage von Herbst konnte Hannah sehen, wenn der Himmel grau und wolkenverhangen war und es nieselte. Dann setzte sich Hannah in die Bibliothek und las oder bestellte sich ein Stück Apfelkuchen im Café. Doch auch wenn sie Herbst, das Mädchen, nie wieder erblickte, so lange Hannah auch auf der Bank wartete, so fand sie jedoch überall die kleinen Geschenke, die Herbst ihr hinterließ. Nüsse, Äpfel, Beeren. Federn und Blätter. Und natürlich haufenweise Kastanien, bis sich ihre Taschen wölbten. Hannah nahm es nie übel, dass das schüchterne Mädchen nicht wiederkam. Herbst war wunderschön. Sympathisch und bunt. So großzügig, wenn überall die Früchte reiften. Sie mochte Herbst einfach.

 

 

Kommentare

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Am 08.10.2021, Travelgirl
Eine wunderschöne Wohlfühl-Herbstgeschichte! Du hast mich damit zum Lächeln gebracht. :)
Lg Travelgirl