Die Stimme der Frau Rosa

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pianizza
Veröffentlicht: 20.05.2021 07:56
Aktualisiert: 20.05.2021 07:57
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Kurzbeschrieb:
Eine meiner ersten Kurzgeschichten.

Text

Als Frau Rosa an diesem Morgen aufstand, war sie gestorben.

Nun, nicht wirklich. Die Frau Rosa war noch recht lebendig, wie sie fand.

Dass sie gestorben war, bemerkte sie erst später an diesem Tag.

 

Frau Rosa war Sängerin.

„Famos ist sie, diese Frau. Diese Stimme“ „Ihre Stimme- so etwas habe ich noch nie gehört!“ „Diese Stimme ist außergewöhnlich! Ganz außergewöhnlich, die Frau Rosa“, erzählten die Leute über sie.

Ja, die Stimme von der Frau Rosa, die war wirklich außerordentlich. Sie war berühmt, diese Stimme.

 

Und die Frau Rosa war stolz drauf. Ja, sie war eine große Berühmtheit, dank ihrer Stimme. Frau Rosa, die große Sängerin. So kannten sie alle.

Sie sang immer und überall.

Unter der Dusche, beim Kochen, mit ihren Freundinnen, auf dem Weg nachhause, immerzu trällerte sie vor sich hin.

Die Frau Rosa arbeitete sogar als Sängerin.

Sie war der Star der Konzertsäle, im ganzen Land.

 

Doch als sie an diesem Morgen erwachte, war ihre Stimme fort.

Sie merkte es sofort, als sie zu ihrem Morgenständchen anstimmen wollte.

Ein klägliches Krächzen entschlüpfte da ihren Lippen, heiser und kratzig.

Frau Rosa war entsetzt.

Was sollte sie denn tun ohne Stimme?

 

Als sie an jenem Tag in den Konzertsaal kam, teilten ihre Sängerkollegen ihr Entsetzen.

„Das ist ja furchtbar“

„Was ist denn passiert?“

„So schade um Sie, Frau Rosa“

Die Worte trösteten Frau Rosa nur sehr bedingt.

Traurig saß sie am Bühnenrand, während die anderen Sänger ihre Stimmen eifrig hoch und runter jagten, kehlige Noten schmetterten und Worte predigten. 

Am nächsten Tage war ein Konzert, und alle waren ganz aufgeregt.

Es war eine große Sache, so ein Konzert- nur leider ohne die Frau Rosa, wie es nun schien.

Wie immer blieb die kleine Gruppe beisammen, um gemeinsam Mittag zu essen.

Frau Rosa konnte es nicht genießen. Alle Gespräche drehten sich ausschließlich um das morgige Konzert, Tipps und Vorschläge wurden ausgetauscht.

Nur Frau Rosa konnte nicht mitreden, schließlich sang sie ja nun nicht mehr.

Herr Tulpe, einer von Frau Rosas engeren Freunden, bemerkte schließlich ihre Betrübtheit.

„Frau Rosa, was gedenken Sie denn dann morgen zu tun? Unglaublich schade ist das, mit ihrer Stimme“, sagte er.

„Oh, das weiß ich noch nicht“, antwortete Frau Rosa.

Tatsächlich brachte sie die Frage zum Grübeln. Was sollte sie denn nun tun, wenn sie nicht singen konnte?

Es war schon merkwürdig. Normalerweise wusste sie immer, was zu tun war.

Doch das war bloß immer das Singen, und nun da das ausgeschlossen war, fühlte sich Frau Rosa haltlos. Was sollte sie mit sich anfangen?

„Vielleicht ist ja noch nicht alles verloren. Gehen Sie doch mal zum Arzt“, empfahl ihr Herr Tulpe.

Frau Rosa folgte seinem Rat.

Bald verabschiedete sie sich und trat hinaus in die heiße Mittagssonne.  

Glücklicherweise war die Praxis ihres Hausarztes nicht weit weg.  

 

„Merkwürdig ist das“, sagte der Arzt, nachdem er sie sorgfältig untersucht hatte.

„Ja, merkwürdig“, krächzte Frau Rosa.

„Äußerst merkwürdig. Sind sie krank, Frau Rosa?“

„Ist Alter Krankheit?“

„Dann wäre ich auch krank, Frau Rosa“

Der Arzt verschrieb ihr ein Döschen Pillen und Schonung, mindestens für ein paar Monate.

„Schade, Sie hatten so eine außergewöhnliche Stimme!“ verabschiedete er sie.

 

Leider wurde Frau Rosas Stimme nicht besser.

Sie versuchte zu singen, wirklich sehr, aber die Ergebnisse beschränkten sich höchstens auf ein paar heisere Krächzer.

Krächzer, immer wieder.

Unter der Dusche, beim Kochen, mit ihren Freundinnen, auf den Weg nachhause, immer nur das Krächzen. 

Sehr deprimierend fand das die Frau Rosa.

 

Das Problem war neben der fehlenden Stimme noch ein anderes: Frau Rosa langweilte sich furchtbar.

Sie hatte scheinbar nichts zu tun. Die Momente, die sie sonst immer durch ihr Singen hatte schmücken können, blieben still und trostlos. Es war, als fehlte ein Teil von ihr.

Nein, nicht nur ein Teil.

Die ganze Frau Rosa fehlte.

Das wurde ihr nun langsam klar. Sie begriff, dass sie an jenem Tag auf eine Weise gestorben war.

Die Frau Rosa, die gelebt hatte, die war plötzlich fort, mit ihrer Stimme.

In der Stille wurde es ihr immer klarer, über die nächsten Wochen hinweg.

Anfangs trauerte sie noch ihrer Musik nach, ging in Konzerte, hockte über Notenblättern und las Ratgeber.

Doch es bereitete ihr kaum noch Freude.

Und dann saß sie ohne da, ohne irgendetwas. Keine Interessen, keine Freuden, keine Ahnung.

Nur mit sich selbst.

Und Frau Rosa erkannte sich nicht wieder.

Alles, was sie zu sein geglaubt hatte zerbröckelte über die Wochen unter dem Kratzen ihrer Stimme.

 

Frau Rosa traf sich nur mehr selten mit den Freunden aus dem Konzerthaus.

Sie veränderte sich, das wurde ihr da bewusst, mehr und mehr.

Denn die Freunde versuchten mit der alten Frau Rosa zu sprechen.

Leider war diese alte Frau Rosa aber verschwunden, bemerkte die neue Frau Rosa.

Ihre alten Freunde redeten über Themen, die in der alte, jetzt toten Frau Rosa, die Stimme, Leidenschaft geweckt hatten.

Aber langsam interessierte das die neue Frau Rosa gar nicht mehr so sehr.

Sie schien so viel mehr zu sehen. Nicht zu sehen, eher zu suchen. Frau Rosa war auf der Suche. Der Suche nach einer neuen Stimme.

 

Anstatt sich mit ihren alten Freunden zu treffen, ging Frau Rosa nun lieber in die Stadt. Sie mochte Museen, Bibliotheken und Cafés, Orte, die sie nur so selten besucht hatte.

Nun war sie öfter dort, auf der Suche nach etwas. Etwas, das die Stimme der neuen Frau Rosa sein sollte.

 

Eines Nachmittags saß Frau Rosa auf einer Parkbank, in einen Roman versunken, den sie sich am Vortag gekauft hatte.

Ganz in die Geschichte vertieft war sie, als sich jemand neben sie auf die Parkbank setzte.

„Sind Sie nicht Frau Rosa, die Sängerin?“ fragte der Jemand, ein älterer Herr mit Glatze. Er musterte die Frau Rosa neugierig.

„Oh, nein, nicht mehr“, antwortete Frau Rosa.

„Schade. Man hörte Sie lang nicht mehr im Konzerthaus“

„Stimmt“, sagte Frau Rosa.

„Sind Sie traurig deswegen?“ fragte der Mann.

„Nein, eigentlich nicht“

„Das ist gut“

Die beiden schwiegen für eine Weile.

„Ich muss gehen“, sagte die Frau Rosa, ein Lesezeichen zwischen die Seiten ihres Buches schiebend.

„Auf wiedersehen, Frau Rosa. Es war schön, sie kennengelernt zu haben“, verabschiedete sie der alte Herr.

„Oh, kennengelernt? Da sind Sie mir aber einen Schritt voraus! Würde ich mich doch auch bloß kennenlernen“, lachte die Frau Rosa.

Der ältere Herr schenkte ihr ein Lächeln.

„Wohl wahr. Aber denken Sie daran, es ist „kennen-lernen“, nicht „kennen-wissen“, sagte der Herr.

„Sie haben recht“, sagte die Frau Rosa, „Es war schön auch Sie kennenzulernen“

Mit einem Lächeln stand sie auf. Kurz darauf war sie aus dem Park verschwunden.  

Der ältere Herr schaute ihr nach, ein Lächeln auf den Lippen. Er mochte die Frau Rosa.

 

Als auch er sich erheben wollte, sah er eine Karte im Staub vor sich liegen.

Er hob sie auf.

Es war das Lesezeichen der Frau Rosa, eine alte Fotografie.

Die Frau Rosa war drauf, auf der Bühne, lachend.  

Für meine Engelsstimme,stand auf der Rückseite geschrieben.

Der Herr steckte es in seine Manteltasche.

Vielleicht sah er sie ja wieder, irgendwann.

Vielleicht konnte er es ihr zurückgeben, irgendwann.

 

-

 

Drei Wochen später erwachte Frau Rosa nicht mehr. Sie war gestorben.

Nun, wirklich.

Es war ein tragischer Unfall. Ein Auto, eine ignorierte Ampel, und es war zu Ende. Keine schöne Sache.

„Wie traurig“, sagten die Leute. „Sie sang so gerne“ „Oh ja, so schön konnte sie singen“ „Wirklich einzigartig“ „Die Stimme wird der Welt fehlen“

Was die Leute nicht wussten, war, dass die Stimme bereits viel früher gestorben war.

Die Frau Rosa, die nun von ihnen gegangen war, sang nicht. 

Frau Rosa starb ohne Stimme.

-

Die Beerdigung fand ein paar Tage später statt.

Ein älterer Herr mit Glatze tat seinen gewöhnlichen Spaziergang durch den Park, der vor dem Friedhof lag.

Umso ungewöhnlicher war es, als er glaubte eine Stimme zu hören.

Eine Stimme die er kannte.

Es war die Stimme der Frau Rosa, ganz sicher.

Merkwürdig fand das der ältere Herr. Er hatte geglaubt die Frau Rosa sänge nicht mehr.

Erst als er zum Stehen kam, bemerkte er das blecherne Rauschen eines Tonbandes unter der lieblichen Stimme.

Plötzlich, ganz bange werdend, harrte der Mann vor dem Friedhof aus, dem Gesang lauschend.

Das war also die Frau Rosa gewesen, dachte er.

Das war es, was die Leute von ihr in Erinnerung hielten; ihre Stimme.

Er musste an sein Gespräch mit ihr denken. Sie war glücklich ohne ihre Stimme, hatte sie gesagt. Dazu hatte sie diese nicht gebraucht.

Der Herr fragte sich, ob die Frau Rosa das gewusst hatte. Wie lang sie ihre Stimme gewesen war. Warum sie sie gewesen war.

Er kam ins Grübeln.

Hätte auch er ein solch phänomenale Stimme gehabt wie die Frau Rose, wäre es auch ihm so ergangen? Wäre auch er nur seine Stimme gewesen?

 

Bestimmt hätte ihm das einiges erspart, dachte er.

Der Herr hatte nämlich lange gebraucht, um zu wissen, wer er war. Niemand hatte es ihm je gesagt. Er hatte es selbst lernen müssen, musste es lernen, immer noch.

Anders als bei der Frau Rosa.

Sogar nach ihrem Tode meinten alle zu wissen, wer sie gewesen war.

Gewesen hätte sein sollen.

„Würde ich mich doch bloß auch kennenlernen“, hatte die Frau Rosa gesagt.

Nun, die Frau Rosa hatte schlussendlich alles über sich gelernt, was sie lernen konnte, fand der Herr. Schließlich war man immer der, der man selbst zu sein glaubte.

 

Die Musik verstummte, Frau Rosas Stimme wurde ausgeschaltet. Sie war gestorben.

Der ältere Herr mit der Glatze setzte sich auf die Parkbank.

Drei Wochen zuvor war die Frau Rosa hier gesessen.

Auch sie war gestorben.

Der Herr lächelte traurig, saß eine Weile da.

Als er sich erhob, lag das Lesezeichen der Frau Rosa auf der Bank.

Für meine Engelsstimme die Frau Rosa

,stand auf der Rückseite   

Kommentare

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Am 20.05.2021, Wolf16
Hallo pianizza
Ich fand deinen philosophischen Text sehr eindrücklich. Am Anfang war ich ein bisschen wegen dem speziellen Schreibstil verwirrt, merkte aber mit der Zeit, dass dieser Schreibstil dieser Geschichte absolut angemessen ist. Mit deiner Wortwahl und dem etwas besonderen Formulierungsstil verleihst du der Geschichte mehr Gewicht.
Die Geschichte selbst hat mich in ihren Wendungen und unvorhersehbaren Entwicklungen immer wieder erstaunt und überrascht und konnte mich deshalb bis zum Ende fesseln.
Freundliche Grüsse
Wolf16
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Am 20.05.2021, Travelgirl
Hallo pianizza
Mir gefällt dein Text und vor allem dein Schreibstil sehr gut. Die Geschichte ist locker und einfach zu lesen, trotzdem animierst du den Leser zum Nachdenken. Besonders gut gefällt mir das mit dem "kennen-lernen und nicht kennen-wissen".
Anfangs wirkte dein Text auf mich etwas durcheinander, im Verlauf der Geschichte kommt man aber gut mit und kann mit den Figuren mitfühlen.