Der Geschmack des Lebens

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Starlight
Veröffentlicht: 17.07.2020 16:30
Aktualisiert: 17.07.2020 16:31
Kategorie: Dies & Das
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Kurzbeschrieb:
Eine Kurzgeschichte, die ich schon vor längerer Zeit geschrieben habe und jetzt ein bisschen überarbeitet habe. Ich hoffe, sie gefällt euch :)

Text

Der Geschmack des Lebens

 

Der Junge sitzt seit Tagen einfach da.

Auf der kleinen Mauer. Vor seinem Haus.

Sagt nichts und tut nichts.

Mena weiss das. Sie beobachtet ihn. Eigentlich schon ziemlich lange. Ihr Fenster liegt auf der Strassenseite und somit genau gegenüber vom Grundstück des Jungen. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellt, kann sie ihn sehen. Er sitzt am linken äusseren Rand, seine Beine baumeln in der Luft und der Kopf ist gen Himmel gestreckt.

Mena hat ein Spiel erfunden. Man braucht Kreide, Hüte und zwei Bälle dafür. Aber alleine spielen ist langweilig. Deshalb ist sie vor vier Tagen auf die Strasse gegangen und hat den Jungen gefragt, ob er mitmachen will. Er hat bloss den Kopf geschüttelt und weiterhin vor sich hingestarrt.

Mena ist noch dreimal hingegangen. Jedes Mal wurde sie vom Jungen abgewimmelt. Böse ist Mena trotzdem nicht. Im Gegenteil. Sie ist neugierig. Fragt sich, was er da macht.

Jeden Tag um Punkt sieben Uhr tritt der Junge aus der Haustür, setzt sich hin und bleibt dort, bis die Sonne vollständig untergegangen ist. Danach verschwindet er wieder im Haus. Bis zum nächsten Morgen um sieben. Da kommt er dann wieder raus. 

Manchmal steht Mena am Fenster und beobachtet ihn einfach nur. Sie bewundert seine Geduld.

Trotzdem fragt sie sich, weshalb der Junge dort sitzt.

Nichts sagt oder tut.

Einfach nur sitzt.

Vielleicht ein Experiment? Für die Schule?

Das glaubt Mena nicht. Es sind Sommerferien. Da muss man keine Hausaufgaben machen.

Heute möchte sie etwas wagen. Sie weiss nicht, ob es klappen wird. Aber einen Versuch ist es wert.

Mena tritt auf die Strasse hinaus.

Der Junge sitzt schon da. Natürlich.

Er blickt nicht auf, als Mena näherkommt.

Auch nicht, als sie sich neben ihn setzt.

Und ebenfalls nicht, als sie seine Haltung einnimmt.

Mena wartet.

Bis die Sonne vollständig untergangen ist.

Der Junge steht auf und verschwindet im Haus.

Mena steht auch auf und geht zurück.

Bis um Punkt sieben Uhr am nächsten Morgen. Da tritt sie wieder auf die Strasse und setzt sich auf die Mauer.

Der Junge ist ebenfalls schon da.

Mena glaubt, etwas Verwunderung in seinem Gesicht zu entdecken. Sie sagt aber nichts. Er auch nicht.

Sie sitzen dort. Bis zum Sonnenuntergang

Am nächsten Tag kommt sie wieder.

Jedes Mal scheint der Junge erstaunter zu sein. Aber er spricht nicht. Sie auch nicht.

So geht es noch zwei weitere Tage lang.

Schliesslich dreht sich Mena zu dem Jungen um. Sagt etwas. Es ist nur ein Wort. Sie spricht es leise aus, aber es ist dennoch gut zu hören:

„Hallo.“

Der Junge schweigt. Mena ist nicht überrascht. Diese Reaktion hat sie schon erwartet. Trotzdem spricht sie weiter:

„Was tust du da? Ist das ein Spiel?“

Die Augenlider des Jungen flattern, aber er erwidert nichts.

Eine Weile lang redet Mena einfach. Erzählt ihm von ihren tollen Eltern, der kleinen Schwester, den spannenden Spielen, die sie selbst erfindet, und der grossen Schule, auf die sie geht.

Der Junge starrt weiterhin in den Himmel.

Trotzdem hat Mena es gesehen.

Das Lächeln.

Es war nur ganz zögerlich. Aber es war da.

Also erzählt Mena mehr. Von ihrem neuen Kleid, den letzten Badeferien, den neugierigen Nachbarn und ihrer lahmen Schildkröte Trevor.

Der Junge hört zu.

Er hält den Kopf jetzt ein klein wenig mehr gesenkt.

Blickt Mena an.

Kommentare

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Am 08.08.2021, Starlight
Liebe Leserate

Danke viel mal für deine super Rückmeldung :)
Nein, ich habe eigentlich nicht an einen zweiten Teil gedacht, aber danke für den Vorschlag.

LG
Starlight
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Am 06.12.2020, Leserate
Gibt es keinen zweiten Teil mehr?
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Am 06.12.2020, Leserate
Liebe Starlight
Ich finde deine Geschichte richtig schön. Und auch diese kurzen Sätze gefallen mir sehr. Immer weiter so.
Liebe Grüsse Leserate
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Am 22.07.2020, Starlight
Liebe welcome home
Danke viel mal für dein tolles Feedback! Die Sache mit dem Fantasiespielraum ist mir noch gar nie aufgefallen, aber du hast Recht - so kann sich jeder selbst etwas zum Himmel denken. Es freut mich sehr, dass dir die Kurzgeschichte gefällt. :)
LG
Starlight
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Am 21.07.2020, welcome home
Hoi Starlight
Ich finde deine Kurzgeschichte sehr gelungen und konnte mich sehr gut in das Mädchen hineinversetzen.
Es ist toll, dass du die Situationen so vielseitig beschreibst und trotzdem genug Fantasiespeilraum für den Leser offen lässt, zum Beispiel warum der Junge so lange in den Himmel schaut.
Ich freue mich auf weitere Geschichten :)

Lieber Gruss
welcome home