Ich höre Schreie, es klingt schlimm...

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Kirja
Veröffentlicht: 25.06.2020 18:06
Aktualisiert: 25.06.2020 18:06
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Kurzbeschrieb:
Kurzgeschichte für ein Schreibwettbewerb meiner Berufsschule zum obigen Titel & zwei weiteren Optionen.
Dieser Text gewann den 1. Platz.

Text

Ich höre Schreie, es klingt schlimm… Fast jede Nacht höre ich sie. Die Wände unseres Studentenwohnheimes sind dünn und hellhörig. Von wem die Schreie kommen weiss ich nicht, den mein Zimmernachbar und ich sehen uns nie. Verschiedene Stundenpläne und Schlafgewohnheiten vermute ich. Schon manchmal habe ich mich gefragt, ob ich vielleicht klopfen soll. Die Geräusche sind ja schon störend, doch die Schreie sind voller Angst und der Gedanke, dass diese Seele doch so viel mehr geplagt ist als ich, lässt mir keine Ruhe. Viel lieber würde ich diesem Nachbar helfen, doch wie?

Ich liege in meinem Bett an der Wand. Heute Nacht sind sie wieder besonders schlimm, ich höre sogar, wie sich mein Nachbar im Bett wälzt. Abrupt bricht der Ton ab, die Stille die er hinterlässt, fast greifbar. Ich höre wie der Nachbar aufsitzt. Der Klang als er sich an die Wand lehnt, ist dumpf. Ich zögere, soll ich wirklich?

Klopfen könnte den Nachbar erschrecken, ich entscheide mich dagegen. Stattdessen presse ich mich nahe an die Wand. Ich würde recht laut sprechen müssen. Es kommt mir albern vor.

„Ich bin hier“ Ich höre scharfes Einatmen, Geräusche der Bewegung hinter der Wand. Eine sanfte, zögernde Stimme dringt zu mir hindurch. „Hier“

„Ich höre zu“ Weiteres Einatmen, als wäre die Antwort unerwartet gekommen.

„Ich bin nicht verrückt!“ Ich verneine und höre erleichtertes Ausatmen.

 

„Bin ich laut?“ Wir hatten nicht mehr gesprochen seit dieser Nacht vor einigen Tagen. Deshalb habe ich die Frage nicht erwartet. Ich sitze auf und lehne mich an die Wand. „Ja“ Ich bin ehrlich.

„Tut mir leid“

 

Von dieser Nacht an sprechen wir regelmässig. Nie lange, nie viel, doch genug um kleine Details des Leben des Anderen zusammenzutragen. Wir sprechen nicht über die Schreie, ich habe nie danach gefragt. Wir tanzen um das Thema herum, sprechen stattdessen darüber, was wir tun wenn wir nicht schlafen können.

 

„Bist du wach?“ Es ist erst gegen zehn Uhr Abends und ich sitze an die Wand gelehnt. Dies ist das erste Mal, dass der Nachbar mich direkt so fragt, und die Zeit ist auch ungewöhnlich. Ich bejahe zögernd.

„Ich will nicht schlafen“ Ich kann mir denken warum. Die jetzt so sanfte Stimme, sie klingt so anders wenn sie mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf reist. „Was tust du normalerweise?“

„Ich lese meist.“ Stille kehrt ein. Ich weiss nicht was sagen.

„Es kommt nicht darauf an was. Hauptsache es lenkt ab.“

„Hast du schon Wörterbücher versucht?“ Der Nachbar lacht leise.

„Danke das du mir zuhörst.“ Es bleibt ruhig diese Nacht.

 

„Ich bin froh, dass du da bist.“ Das leise Geständnis wärmt mein Herz. „Es klingt vielleicht komisch, aber deine Stimme ist wie ein Anker.“

„Inwiefern?“, frage ich.

„Du holst mich zurück. Die Träume, wenn sie vorbei sind, ich weiss nicht immer wo ich bin.“ Die Stimme räuspert sich. „Ich bin nicht gut mit Menschen, deshalb gehe ich kaum irgendwohin, wenn ich nicht muss. Trotzdem weiss ich nicht, wo ich bin, wenn ich aufwache. Deine Stimme, sie gibt mir Sicherheit.“ Ich verstehe.

„Ich weiss nicht wieso du dies tust. Aber ich bin dankbar, es hilft.“

„Was sind wir?“, frage ich.

„Ich weiss es nicht. Sind wir Freunde? Wir kennen uns kaum, wissen nicht mal wie der andere aussieht. Und trotzdem, ich spüre, da ist etwas.“

„Willst du mich kennen lernen?“ Es bleibt eine Weile still. Ich höre wie der Nachbar sich bewegt.

„Ich denke ja, aber irgendwie habe ich Angst davor.“

„Weisst du was, wenn du es versuchen willst, klopf doch mal an meine Tür. Komm einfach vorbei, wenn du bereit bist.“ Ich höre Atmen auf der anderen Seite.

„Gut“ Rascheln, dann nichts mehr.

 

Die Klassen sind soeben fertig geworden. Ich stelle meine Tasche neben das Bett und setze mich, lauschend auf Geräusche von nebenan. Es ist zur Gewohnheit geworden.

Ich höre Schritte, dann die Tür von nebenan. Die Augen schliessend, lehne ich mich zurück an die Wand. Ein Geräusch an meiner Tür ändert dies. Es hat geklopft.

ooooo
 

Ein Wort zu meiner Vorgehensweise:
Wir hatten den Titel vorgegeben sowie einen Word-Count. Ich hatte noch nie richtig Kurzgeschichten geschrieben, aber habe über die Jahre durch FanFiction sehr viel Schreiberfahrung gewonnen. Ich arbeitete hier mit der Philosophie eines "Oneshots"
rein... kleine entwicklung ohne viel kontext oder backstory... raus
ich hatte lediglich zu einem nächsten abschnitt geführt... das war das Ziel...

Wichtig war mir, dass die Charakter trotz der Kürze des Textes dreidimensional wirken, dies erzielte ich durch Anmerkungen über ihre Gewohnheiten, ihre Reaktionen aufeinander, sowie eine gewisse Undefiniertheit über die konkreteren Details zu ihrem Leben. Auch habe ich bewusst nie die Geschlechter der beiden definiert, das überlasse ich der Interpretation.

Aufgrund der Wort-Limite habe ich auch bei den Wörter gespart. Speziell sichtbar ausgewirkt hat es sich auf den Dialog.

So, das wars... nicht direkt Schreibtips, mehr eine Einsicht in den Kopf des Autors, was ich persönlich sehr spannend finde...
vielleicht kann ja jemand etwas damit anfangen... 

Kommentare

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Am 03.07.2020, welcome home
Gerne :)
Ach, gut zu wissen! Ich habe nämlich oft das Problem, zu viel zu wollen und dann verzettel ich mich auch.
Ich finde es ziemlich doof, zuerst ein Konzept zu schreiben (dafür bin ich einfach zu faul ;)), doch da ich gerade an einem grösseren Projekt dran bin, muss ich jetz wohl doch... :)
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Am 03.07.2020, Kirja
Danke viel Mals welcome home.

Es freut mich das es dir gefallen hat. Ich hatte mega Freude daran, in so einem Setting zu schreiben:)

Ich glaube ich hab vergessen zu schreiben das ich vorher geplant habe. Also, ich wusste wie ich anfangen würde, aber ich hab mir auch schon vor dem eigentlichen schreiben gedanken dazu gemacht, wie der schluss sein sollte, das hat mir geholfen, mich nicht zu verzetteln :)
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Am 02.07.2020, welcome home
Hoi Kirja

Wow, ich hatte Gänsehaut! Ein echt toller Dialog, toller Aufbau und schöne Wendung der Geschichte.
Verdiente 5 Sterne! :)

Vielen Dank, dass du auch deine Vorgehensweise geteilt hast. Unter den Bedingungen war es sicher eine Herausforderung zu schreiben.

Lieber Gruss welcome home