Ertrinken

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Pollux
Veröffentlicht: 12.06.2020 23:35
Aktualisiert: 12.06.2020 23:35
Kategorie: Dies & Das
Tags: Trauer
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Kurzbeschrieb:
Die Geschichte von einem Jungen, verlorener Freundschaft und Trauer.

Text

Lieber Leserinnen und Leser :) 

 

ich habe eine kleine Kurzgeschichte geschrieben und würde mich sehr freuen, wenn ihr mir eure Vermutungen, zum Ende der Geschichte, schreiben würdet :D. Insgesamt freue ich mich auch sehr über Kritik und Verbesserungsvorschläge.

 

 

Ertrinken

 

Gemütlich kletterte er die etwas wackelige, graue Leiter hoch. Schon lange störte ihn das Wackeln nicht mehr. Er konnte sich noch gut an seine zitternden Knie erinnern, als er sie das erste Mal hochgestiegen war. Seine schwitzigen Hände hatten sich an das kühle Metall der Leiter geklammert und sein Atem ging flach. Doch all das war einmal. Und jetzt, als er ruhig seine Spraydose anhob und seinen Arm von dem grauen Gestell löste, breitete sich ein breites Lächeln auf seinem jungen Gesicht aus. Erst vor kurzem hatte er wieder gelernt zu lächeln und Gott, war es anstrengend gewesen, denn seine Schuldgefühle hatten ihn innerlich aufgefressen. Natürlich nagten sie ab und zu noch an ihm und drohten ihn in ein tiefes schwarzes Loch zu stürzen, doch daran wollte er jetzt nicht denken. Nicht in diesem schönen Moment. Er wollte ihn einfach nur genießen, denn so frei und unbeschwert hatte er sich trotz Besserung lange nicht mehr gefühlt. Das Licht der untergehenden Sonne wärmte ihn und am liebsten hätte er sich die schwarze Kapuze vom Kopf gerissen und sein Gesicht im hellen Licht gebadet. Ein wohliger Schauer lief durch seinen Körper und er seufzte bei dem Gedanken an das Prickeln der hellen Strahlen auf seiner Haut. Doch kurz darauf wurde es von einem Seufzen ersetzt. Auch wenn es ein entspannter Sonntag war und das Schulgebäude schon seit einiger Zeit wegen der Corona-Pandemie menschenleer war, musste er aufpassen. Schon einige Male war ihm und seinen Kumpels diese Unvorsichtigkeit zum Verhängnis geworden und hatte ihm einmal sogar etwas sehr Wertvolles genommen. Genervt von sich selbst, weil seine Gedanken schon wieder abgedriftet waren, konzentrierte er sich auf die schwarze Linie, die er vorsichtig zog, um ja nichts daneben gehen zu lassen. Das Graffiti war ein Teil von ihm geworden, die Tinte und der Lack hatten über all die Jahre hinweg tiefe Spuren hinterlassen. Er verband viele schöne und auch traurige Momente mit ihr. Jedes Mal wenn etwas passiert war, griff er auf das Sprayen zurück und ließ seinen Gedanken und Fingern freien Lauf. Am Ende entstand ein Kunstwerk, das seinen Gedanken, Gefühlen und Handlungen entsprach. Auch jetzt wusste er noch nicht, was er als Endbild auf der weißen Wand zu sehen bekommen würde. Würde es ein politischer Schriftzug sein, ein „magisches Wesen" oder das Wort, das ihm in der letzten Klassen-Arbeit einfach nicht hatte einfallen wollen? Er wusste es nicht. Aber was er auf jeden Fall wusste war, dass am Ende des Tages die gleiche Unterschrift wie immer unter seinem Werk stehen würde. Es war die von seinem einstigen besten Kumpel. Er wusste aber nicht genau, warum er sie benutzte, ob es an seinen Schuldgefühlen lag oder an seinem Wunsch ihre frühere gute Freundschaft in Erinnerung zu halten? Oder war es eine Art von Unterdrückung der Realität, des Todes? Wollte er ihm und auch anderen weismachen, er würde noch leben? Ihn somit irgendwie festhalten? Oder tat er es nur aus Mitleid und Nächstenliebe, weil X schon von klein auf davon geträumt hatte ein berühmter Graffiti-Sprayer zu werden, wie Banksy oder Roa? Er konnte immer noch sein lachendes Gesicht vor sich sehen, wie seine Augen gestrahlt hatten und sein Mund sich zu einem breiten Grinsen verzog. Sie, er und ihre anderen Freunde hatten X wegen seines runden Gesichts immer aufgezogen und Pfannkuchen genannt. Aber leider ging das ab der 7. Klasse nicht mehr, als X auf einmal seinen ganzen Babyspeck verlor. Wenn er sich richtig erinnern konnte, ging es auch von da an los. Das Lächeln von X war nicht mehr das gleiche gewesen. Seine Augen hatten nicht mehr wie früher gestrahlt und sein Lächeln war nie wieder so breit wie vorher. Bis er ihn schlussendlich gar nicht mehr Lachen gesehen hatte. Ein Poltern riss ihn aus seinen Gedanken, die ihn zu verschlingen drohten und erschrocken hielt er in seiner Bewegung inne. Er erstarrte und lauschte in die wiedergekehrte Stille hinein, doch außer seiner knarzenden Leiter war nichts zu hören. Mit seinen Augen suchte er den Raum ab, um den Auslöser des Geräusches zu finden.

Sein Blick blieb an einer seiner Spraydosen hängen, die anscheinend umgekippt war und noch leicht hin und her schwankte. Endlich holte er wieder Luft - er hatte gar nicht bemerkt, dass er sie angehalten hatte und entspannte seine Muskeln. Dieses Mal

 schwor er sich, sich zu konzentrierten und nicht wieder von seinen Gedanken ablenken zu lassen. Eigentlich war das Sprayen sonst immer eine gute Methode der „Besserung" gewesen, zumindest hatte er sich das eingeredet. Er hatte an Alles und Nichts gedacht, aber nie an diesen Moment. Aber seit ein paar Wochen schienen ihn diese miesen Gedanken zu verfolgen. Bestimmt lag es an seinem Treffen mit seiner Therapeutin - auch vor ein paar Wochen. Sie sollte ihm helfen, die Ereignisse besser zu verarbeiten, das hatte ihm zumindest seine Mutter gepredigt. Am Anfang hatte er dem nicht wirklich geglaubt und sich zurückgezogen, aber schließlich hatte es ihm geholfen. Und genau so hätte es bleiben sollen. Er war wieder mit Freunden rausgegangen, seine Noten waren besser geworden und seine Depressionen hatten sich teilweise verabschiedet. Genau so hätte es nach seiner Meinung bleiben sollen. Aber seine Eltern und Therapeutin hatten da ganz andere Ideen. Sie wollte ihn dazu bringen richtig abzuschließen und nicht nur so „halb", wie sie es nannten. Sie sprachen von dauerhafter Verdrängung und das sei nicht gut und blablabla. Und jetzt hatte er den Salat, denn seine düsteren Gedanken holten ihn wieder ein und er konnte sich einfach nicht dagegen wehren. Seine Gedanken flüsterten ihm zu, dass er ein schrecklicher Mensch war, ein sich taub und blind Stellender, ein Heuchler, eine grausame Seele ... Aber vor allem ein feiger Freund. Aber konnte man ihn wirklich beschuldigen? Hätte nicht jeder andere genauso reagiert? Wäre jeder andere nicht genauso feige wie er gewesen? Er war auch erst 16 gewesen. Was hätte er denn Großartiges tun können? War er blind gewesen? Nein. Taub? Nein. Schrecklich, grausam, ein Heuchler? Nein auch nicht. Vielleicht feige. Feige könnte passen. Ja. Feige passte, denn er hatte nicht gefragt. Aber er hatte auch so schrecklich Angst gehabt.

„Was wäre, wenn er mir eine Antwort gibt? Was soll ich dann tun?": das war die Frage gewesen, die ihm jede Nacht den Schlaf geraubt hatte. Und jeden Morgen war er nicht schlauer als zuvor gewesen. Dann war er zur Schule gegangen, hatte weiter gegrübelt und schließlich den Entschluss gefasst, X zu fragen. Aber jedes Mal, wenn er dann vor X stand und seinen Mund aufmachte, kamen nicht die geplanten Worte raus. Eher so etwas wie „Ich hab ? gehört, wir habe heute Matheentfall." oder „Was lernst du eigentlich für die Englischarbeit?" Aber wie hätte er auch fragen sollen? Hätte er sich langsam an das Thema annähern sollen, vielleicht sogar über eine ganze Woche? Jeden Tag ein bisschen mehr in die Richtung fragen, bis er schließlich die gefürchtete Frage stellt oder X ihm sogar selbst sein Leiden erzählt? Oder wäre es doch am aller besten gewesen direkt auf Konfrontation zu gehen? Und so war ein halbes Jahr, ein weiteres halbes Jahr und noch ein Jahr und schließlich noch ein Jahr verstrichen, bis er eines Tages aufwachte, in die Schule ging und keine Frage mehr stellen konnte, denn sein bester Kumpel war nicht anwesend. Am Nachmittag ging er nicht ans Telefon und auch zu ihrem Treffpunkt an den Gleisen zum Graffiti-Sprayen kam er nicht. Nachdem er nach drei Stunden am Bahnhof sitzend gewartet hatte, wieder nach Hause ging und in sein Bett fiel (es war zum Glück Freitag und er hatte am Samstag keine Schule) jagten ihn seine Träume immer wieder zu dem Haus seines besten Freundes, der blutüberströmt vor ihm auf dem Boden lag, mit kalten Augen zur Decke starrte und dessen Mund auf der einen Seite aufgerissen war, sodass es aussah als würde er eine Fratze schneiden. Fast so als wollte er ein Lächeln andeuten. Fast so als wollte er ihn wegen seiner Feigheit verspotten. Am nächsten Tag wachte er schweißgebadet und hundemüde durch das Klingeln an der Tür auf. Er seufzte genervt auf, schlappte in seine Hausschuhe und schlurfte ins Bad. Er holte tief Luft und spritzte sich eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht. Es brachte nicht sehr viel. Dafür aber die Worte, die er in den nächsten Minuten hörte. Sie waren wie Becher voll eiskaltem Wasser, als schwämme er in der Antarktis und tauche ganz tief runter, aber komme nicht mehr hoch. Seine Ohren piepen und er gefriert. Aber es ist kein körperlicher Schmerz - nur seelischer. Er ist in einer Art Trance, Bewusstlosigkeit und kommt erst wieder zu sich, als er von seinem Vater in eine feste Umarmung gezogen wird.

 

Und dann kamen die Tränen.

Kommentare

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Am 07.07.2020, Tinto
Hi Pollux,

eine schöne und traurige Coming-of-Age-Geschichte, die mich sehr berührt hat. Der Verlust, die Hauptfigur erlitten hat, ist spürbar und man merkt: Die Leichtigkeit der Jugendjahre ging verloren.
Du erzeugst viel Spannung, indem du nicht zu viele Details verrätst - die Aussparungen führen dazu, dass man sich als Lesende viele Gedanken macht und X ein Geheimnis und Würde behält. Mich persönlich stört nicht, dass X keinen Namen hat. Ist es die Signatur, mit der er seine Graffiti zeichnet? Ist es ein Spitzname? Oder kann die Hauptfigur den Namen nicht nennen, weil es zuviel Schmerz bedeuten würde?
Mehr Gliederung würde auch ich empfehlen. Auch das eine oder andere Sprachbild müsste man anschauen. Ist es wirklich eine Fratze (negativ konnotiert) oder nicht viel mehr eine Grimasse (neutraler formuliert), die die Hauptfigur in Erinnerung hat?

Herzliche Grüsse - ich freue mich auf mehr Geschichten von dir, Tinto
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Am 13.06.2020, welcome home
Hoi Pollux
Da ich keine genaue Vemutung zum Ende habe, lasse ich es gern einfach so stehen.

Die Geschichte an sich finde ich super. Ich habe beim Lesen richtig mitgefiebert und es hat mir auch sehr gut gefallen, dass du es bis am Schluss spannend gehalten hast, was genau passiert ist.
Ich bewundere deinen grossen Wortschatz und deine Art, Sätze zu bauen :)

Einen Punkt hätte ich jedoch: Da deine Geschichte etwas lang ist, würde es das Lesen erleichtern, wenn du Absätze machst.
Ausserdem finde ich es etwas verwirrend, dass der Freund X heisst, da ich mir nicht vorstellen kann, dass Eltern ihr Kind so nennen. Aber das ist meine persönliche Meinung und spielt rein für die Geschichte keine Rolle :)

Lieber Gruss
welcome home