Wie ich mich gegenüber der Wahrnehmung von Frauen verändert habe

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Philippe
Veröffentlicht: 05.12.2019 20:02
Aktualisiert: 05.12.2019 20:05
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Ganz zu Beginn war da dieser romantische Gedanke, dieses romantische Gefühl. Irgendwo da draussen gab es sie. Meine Seelenverwandte. Ich musste nur immer fest daran glauben und in diesem einen Moment, in dem ich es am wenigsten erwartete, würde sie in meinem Leben erscheinen. Wie in der einen Szene in der Wüste aus dem weltbekannten Buch „Der Alchimist“ von Paulo Coelho.

Meine ersten Erinnerungen an das Aufeinandertreffen mit dem anderen Geschlecht stammen aus der Zeit im Kindergarten. Wir wurden zu einer etwa gleich grossen Gruppe aus Jungen und Mädchen zusammengewürfelt. Die "Spiele" begannen, man tastete sich langsam an die Mädchen ran, wollte sie beeindrucken, wollte ihnen zeigen, wie stark man ist. Ich war schon damals der Kleinste unter den Jungen (und auch kleiner als die meisten Mädchen) und dachte, ich müsse immer der Lauteste und der mit der grössten Klappe sein, um von den Mädchen wahrgenommen zu werden. Das brannte sich schon sehr früh in mich ein, wie ich agierte und reagierte. Ich wollte einfach zeigen, dass ich konkurrenzfähig bin zu meinen grösseren, stärkeren Freunden. Ich probierte alles, um von den Mädchen gemocht zu werden. Ich wollte doch nur geliebt werden. Der Grundgedanke war gut, die Ausführung schwach. Ich ging davon aus, dass nur Macho-Gehabe sie beeindrucken würde. Dass der einzige Weg für mich, um an sie ranzukommen, war, jemanden darzustellen, der ich ganz klar nicht war. Ich war aber Welten davon entfernt, mir dem bewusst zu sein. Da begann das Problem, das ich viele, viele Jahre mit mir herumtragen sollte.

Nach diesem Jahr wechselte unsere Gruppe auf die "grosse Bühne". Es startete die 1. Klasse, wir fanden uns mit hunderten weiteren Kindern (und jungen Erwachsenen) auf dem Schulareal wieder. Der Auftakt war geprägt vom Zurechtfinden auf der kaum zu überblickenden Grösse des Komplexes mit unseren zarten sieben Jahren. Es war ein Herantasten, was möglich ist und was nicht, was erlaubt ist und was nicht, vor wem man sich zu fürchten hatte und von wem keine Gefahr ausging. Die Unter- und Oberstufe waren durch zwei verschiede Schulhäuser getrennt, wir teilten uns aber das Pausenareal mit allen, unter anderem mit den Grössten der Grossen, den bis zu neun Jahre älteren Oberstufenschüler. 

Auf der Mitte des Innenhofs stand ein rechteckiger, etwa kniehoher Brunnen mit einem Bronzeauslauf in jeder der vier Ecken, an denen man den sanften Druck des Wasserstrahls mit Leichtigkeit erhöhen konnte, indem man einen Finger mit Druck um die Öffnung platzierte. Der Wasserstrahl konnte mit etwas Übung ganz gezielt auf gegenüberliegende Schüler gerichtet und so bis auf die Knochen nass gespritzt werden. Es entstanden regelrechte Kämpfe zwischen den Gruppen von Schülern, wer die Kontrolle über die Ausläufe und damit über die Macht des Wassers hatte. Als die kleinsten Schüler auf dem gesamten Areal mussten wir immer abwägen, wie nahe wir uns an den Brunnen wagen konnten. Nicht selten kam es vor, dass die älteren Schüler uns mit samt Kleider in den Brunnen warfen. Das war bei allen gefürchtet und hinterliess eine stetige Angst oder zumindest Vorsicht vor den nächsten Pausen. In den wärmeren Monaten galt das Hauptaugenmerk also dem Brunnen. 

Es folgten kühlere Jahreszeiten und der Winter und mit ihm die Vorfreude auf den ersten Schnee.

Hinter den beiden Schulhäusern lag die grosse Rasenfläche mit einer knöchelhohen Schneeschicht bedeckt da. Unablässig schneite es weiter dicke Flocken herab. In den Schulzimmern wurden gebannt die Minuten an der Wanduhr runter gezählt, das schrille Läuten zur Pause eine Erlösung. Endlich konnten die Schuhe gebunden, die Handschuhe und Mütze angezogen und nach draussen in den kalten Morgen gerannt werden. Über den Schotter bedeckten Hinterhof ging es runter auf den schneebedeckten Rasen. Dieser Schauplatz verwandelte sich fortan in verschiedene kleine bis grosse Schneeballschlachten. 

Einmal mehr, wie Monate zuvor beim Brunnen, mussten wir uns herantasten. Sehen, wie weit wir gehen konnten, ohne komplett von den älteren Schüler in die Mangel genommen zu werden. Zu unserem Entsetzen kamen sie irgendwann auf die glorreiche Idee, ihre Schneebälle mit Schotter aus dem Boden des Hinterhofs zu bespicken, was für hartes Auftreffen und viel Schmerz auf unserer Seite sorgte. Zum Glück wurde das sehr schnell von den patrouillierenden Lehrern unterbunden und würde hart bestraft werden, sollten sie weiter auf diese fiesen Schnee-Schotter-Mixturen zurück greifen. 

Die ersten Monate und Jahre in der Schule gingen somit nicht spurlos an mir vorbei. Immer wieder wurde ich von den älteren Schülern bedrängt und belästigt. Ich fiel bei ihnen natürlich auch speziell dadurch auf, dass ich sehr klein war, trotzdem aber eine riesige Klappe hatte.

Aus heutiger Perspektive gesehen ist es schwierig für mich zu evaluieren, wie stark mich das alles in meinen folgenden Handlungen und in meinem Verhalten beeinflusst hat. Das soll aber in keiner Weise eine Entschuldigung für mich sein, wie ich mich später verhalten habe. Wäre ich zu diesem Zeitpunkt auch nur ein wenig meiner Selbst bewusst gewesen, hätte ich mein unfaires Verhalten hinterfragen und damit aufhören müssen. Ich war aber weit davon entfernt, mir auch nur ansatzweise bewusst zu sein, warum ich mich verhielt, wie ich mich verhielt. 

Getrieben dadurch, wie ich in den letzten Jahren von den älteren Schüler behandelt wurde, fing ich selber an, die jüngeren, kleineren und schwächeren Schüler der Klassen unter mir auf dem Pausenareal zu bedrängen und zu traktieren. Immer häufiger fiel ich bei den Lehrer als Unruhestifter auf. Wenn in den Pausen irgendetwas passierte, wenn ein Kind weinte oder ähnliches, hiess es sofort, ich wäre der Schuldige, egal ob ich denn wirklich daran beteiligt war oder nicht. Meistens war ich es. Das war die Konsequenz davon. Ich hatte mir meinen Ruf willentlich selber so aufgebaut. 

Anstatt mich dadurch schlecht zu fühlen, genoss ich es förmlich, im Mittelpunkt der Geschehnisse zu stehen, auch wenn das für mich hiess, dass ich immer häufiger Probleme mit der Lehrerschaft bekam. Es fühlte sich gut an, von den Schülern gefürchtet zu werden, wie ich mich einige Jahre zuvor selber vor den "Grossen" gefürchtet hatte. Wie primitiv. 

Auch in meiner eigenen Klasse wurde ich zunehmend unbeliebter bei den Mädchen, weil ich selbst klassenintern nicht davor zurückschrak, Mitschüler und vor allem meine Mitschülerinnen verbal fertig zu machen und schlecht da stehen zu lassen, immer noch der fatalen Überzeugung, ich wäre der Grosse im Umzug.

Ich ritt auf einer Welle der sozialen Selbstzerstörung und konnte, nein, wollte mir dessen nicht bewusst werden. Traurig aber wahr. 

Infolgedessen schrumpften meine Chancen, beim weiblichen Geschlecht irgendetwas zu reissen, logisch für alle ausser für mich, natürlich massiv. 

Das zog sich noch Monate und Jahre nachdem ich aus der Schule gekommen war so weiter, bis ich endlich merkte, dass ich immer und überall aneckte und ich mich ändern musste. Ich war an einem Punkt angekommen, der für mich derart schmerzhaft war, dass ich einfach nicht so weitermachen konnte. Nicht so weitermachen wollte. Ich musste mich ändern. Ich wollte mich ändern. Ich musste aufhören, Verantwortung von mir zu schieben, anderen die Schuld zu geben. Ich musste mich endlich mehr mit mir selber befassen. 

Nach und nach wurde ich introvertierter, habe mich in Bücher verkrochen, suchte dort nach Antworten auf Fragen, von denen ich noch nicht so recht wusste, welche sie waren. Ich habe versucht, mein Leben umzukrempeln, bewusster zu werden in meinen Handlungen und in meiner Umgebung. Ich habe angefangen, ein besserer Mensch zu sein. Jeden Tag ein bisschen weniger ein Arschloch zu sein. Stück für Stück. Meinen Mitmenschen mit dem Respekt zu begegnen, den sie verdienen. Ich habe versucht, mich „ein zu balancieren“, vergangene schlechte, nicht mehr rückgängig machbare Taten, durch zukünftige, bessere Handlungen zu ersetzen. Alles zu machen, was in meinen Händen lag, was ich beeinflussen konnte. 

Und siehe da: Plötzlich wurde ich ganz anders wahrgenommen, wurde wieder beim weiblichen Geschlecht registriert. Und das, obwohl ich immer noch der Kleinste und nicht mehr der Lauteste im Raum war. Es spielte keine Rolle. Ganz im Gegenteil. Viel wichtiger war es, mindestens fünf Gänge zurück zu schalten, mich aus dem Mittelpunkt zu nehmen und eifach mal zu sein. Lernen, den Menschen bewusst zuzuhören, ohne schon mit einer besserwisserischen Antwort auf die Fortsetzung des Gesprächs aufzuwarten. Aus jeder Interaktion lernen. Ein Prozess, an dem ich auch heute noch ständig arbeite, um besser zu werden. Es gibt kein Endziel, das Ziel ist es, täglich besser zu werden. 

Rückblickend gesehen ist es absolut lächerlich wie viel Energie ich investiert hatte, um die Mädchen beziehungsweise jungen Frauen mit etwas zu beeindrucken, was bei ihnen weder gut ankam, noch dass ich denn diese Person war, die ich so verzweifelt versucht hatte darzustellen. Unautenthischer zu sein geht gar nicht. 

Es ist unvorstellbar und zu meinem eigenen Glück nicht messbar, wie viel mehr Kraft es mich gekostet hat, jemanden zu verkörpern, der ich nicht war, der ich nie war und der ich nie sein werde. Wie viele Probleme hätten mir erspart bleiben können? Unzählige.  Nichts desto trotz ist das absoluter Nonsens und fördert mir keine Träne der Wehmut zutage. Im Gegenteil. Es klingt klischeehaft, ist aber so wahr, wie ich diese Zeilen hier schreibe: Nur mit all dem was war, konnte ich zu dem werden, der ich heute bin. 

All das lässt die für mich logische wenn auch paradoxe Schlussfolgerung ziehen, dass ich, ohne dass ich heute viel mehr mache, als mich verletzlicher zu zeigen und offener über meine Gefühle zu sprechen, also einfach mehr versuche ich zu sein, von den Frauen ganz anders wahrgenommen werde, als dies der Fall war, als ich noch verzweifelt mit allen Mitteln und all dem Aufwand um ihre Aufmerksamkeit gerungen hatte.

 

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Am 06.01.2020, Lunasapio27
Faszinierend