Eine graue Welt

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Veröffentlicht: 17.08.2019 10:31
Aktualisiert: 17.08.2019 10:35
Kategorie: Fantasy
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Text

«Du darfst erst spielen gehen, wenn du aufgegessen hast!», meint meine Mutter und schöpft sich noch etwas Salat. Mir schmeckt das Essen nicht. Es ist klobig, geschmackslos und hat kaum Farbe. Ausserdem muss meine Mutter mehr als eine Stunde zum Einkaufen fahren. Nicht weil wir so abseits wohnen würden, nein, aber das riesige Areal mit Treibhäusern und grossen Laboren zum Einkaufen liegt eine Stunde entferntFleisch ist so teuer, dass wir es uns nur sehr selten leisten können. Mich stört das jedoch nicht besonders, da auch Geflügel, Rind oder Schwein nicht anders schmeckt als Kartoffeln oder Salat.
 

Es klingelt an der Tür, während ich mürrisch eine Gabel mit Reis belade und sie zögerlich zum Mund führe. Mein Grossvater tritt herein und lächelt mich amüsiert an, da kann ich nicht anders und muss lachen«Ich möchte dir etwas zeigen, meine Kleine. Na los, iss schnell auf, wir haben nicht viel Zeit!», sagt er geheimnisvoll, und neugierig schaufle ich nun die letzten Resten von meinem Teller in mich hinein, springe auf, stelle meinen Teller in der Küche ab und hüpfe meinem Grossvater hinterher, der schon wieder hinausgegangen ist. «Bring sie zum Abendessen wieder!», ruft meine Mutter noch, doch die Tür ist schon ins Schloss gefallen.
 

Draussen ist es kühl, der Himmel ist grau und wolkenverhangen und auf einer Banklehne sitzen zwei ausgehungerte Raben, die sich wütend ankrächzen. Genervt will ich in meine Hände klatschen, um sie zu vertreiben, doch mein Grossvater packt mich am Arm. Etwas erschrocken versuche ich mich aus seinem Griff zu befreien. Ich möchte die zwei Viecher vertreiben, da sie mich mit ihren Lauten nachts wach halten.
 

«Nicht doch!», sagt mein Grossvater ruhig und erklärt: «Das sind Urahnen aus einer längst vergessenen Zeit! Wir sollten Sorge zu ihnen tragen, ansonsten werden auch sie verloren gehen!» Er nimmt etwas Salat aus seiner Manteltasche und wirft die Blätter zu den Vögeln, die überrascht aufspringen und sich draufstürzen. Verständnislos und mit grossen Augen sehe ich meinen Grossvater an. Wir gehen die Strasse hinunter, entlang an Wolkenkratzern, sie sich nebeneinander aufreihen, entlang an verlassenen Parkbänken und still gelegten Brunnen.
Etwas ausserhalb des Kerns der Stadt biegen wir plötzlich ab und sofort wird mir mulmig zumute. 
So weit vom Haus weg waren wir noch nie! 

Zielsicher strebt mein Grossvater eine unverbaute Stelle an. Darauf steht einzig ein Brunnen, der ebenfalls trocken liegt. Wir bleiben davor stehen und mein Grossvater legt behutsam eine Hand auf den kalten Stein, stützt sich erschöpft darauf ab und sieht glücklich und erleichtert hinein. «Es ist noch da, sieh doch!», sagt er und zeigt mit einem Finger auf eine Stelle, die ich jedoch nicht sehen kann, weil ich zu klein bin. Er hebt mich hoch und ich setze mich auf den Brunnenrand. Da ist esalso. Das kleine, sattgrüne Etwas habe ich noch nie gesehen.Es hat etwas Magisches, Anziehendes und so Wundervolles.
 

«Das ist ein Pflänzchen. Aus unbegreiflichen Gründen ist es hier gewachsen, und wenn wir keine Sorge zu ihm tragen, wird es verschwinden, so schnell, wie es gekommen ist. Spring in den Brunnen und dieser kleine Schoss wird dir eine Welt zeigen, die du nicht kennst. Vertraue, ich bin immer an deiner Seite», verspricht mein Grossvater und lässt meine kleine, vor Aufregung zitternde Hand los. 

Mit all meinem Mut lasse ich mich am Brunnenrand entlang auf den Boden gleiten, schliesse ängstlich meine Augen und bin überrascht, wie schnell meine Füsse festen Untergrund finden. Vorsichtig luge ich hinunter und schreie erschrocken auf. Meine Zehen umschliesst eine grüne, weiche Masse und sofort springe ich auf und stelle fest, dass sie weder klebrig ist, noch mich gefangen halten will. Es ist heute warm und mit einem Blick in den Himmel bin ich mir sicher, dass es an der grellen Kugel liegt, die in eine grosse, blaue Unendlichkeit eingebettet liegt.
 

Ein lautes Krächzen erinnert mich an die Raben aus der Stadt, doch ich sehe nur viele kleine Vögel um ein riesiges Etwas kreisen. Es ist fast so gross wie die Häuser, die ich kenne, unten braun und dünn und nach oben dunkelgrün und wolkig. Ich fühle mich so wohl, breite meine Hände aus und drehe mich im Kreis. Immer schneller und schneller. Es ist wie ein Traum! Ich lasse mich in die weiche Masse zu Boden fallen und lache, so durchdringend glücklich, wie ich es noch nie empfunden habe. Das Gezwitscher der Vögel lässt mich zufrieden die Augen schliessen und die Wärme in mir aufsaugen, die vom Himmel strahlt. 

Da ist es wieder, das Gekrächze der Raben – durchdringend, bittend, verzweifelnd. Leicht genervt öffne ich meine Augen und starre an meine Zimmerdecke. Schnell schliesse ich meine Augen wieder, stelle mir den wunderschönen Ort vor, an dem ich vorher doch gerade noch war. Das kann nicht sein! War es denn doch nur ein Traum? 

Enttäuscht stehe ich auf und eile nach unten. Meine Eltern sitzen schon am Tisch. Mein Vater liest Zeitung und meine Mutter schaut erstaunt auf. Zielstrebig gehe ich in die Küche und zupfe einige Blätter des Salats ab. Bevor jemand etwas sagen kann, schlüpfe ich aus dem Haus und lege die kleinen Stücke vor der Bank zu Boden. Zufrieden beobachte ich die zwei Raben und richte meinen Blick die Strasse hinab.
 

Ich werde dich wiederfinden, kleines Pflänzchen, da bin ich mir sicher.

Kommentare

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Am 07.12.2020, welcome home
Vielen lieben Dank @Leserate und @Kiwi23 :)
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Am 05.12.2020, Leserate
Das ist eine wunderschöne Geschichte. Ich liebe sie.
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Am 10.05.2020, Kiwi23
Hey welcome home
Diese Geschichte hat mich sehr berührt. Sie hat mir sogar ein bisschen die Augen geöffnet und dafür möchte ich Dir danken.
Ich freue mich mehr von Deinen Texten zu lesen :)
LG Kiwi
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Am 26.01.2020, welcome home
Vielen Dank für die positiven Rückmeldungen!
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Am 19.11.2019, Pferdegirl
Mich hat die Geschichte total gepackt!Wunderbare Geschichte!