Kleines Wunder

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Starlight
Veröffentlicht: 06.08.2019 11:51
Aktualisiert: 13.08.2019 09:47
Kategorie: Dies & Das
Tags: Junge, Bank, begegnung, Frau
Memories
Thema Mut 2020
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Text

Kleines Wunder

 

 

Der Junge sass auf einer kleinen Bank vor der Stadtbibliothek.

Die Sonne schien auf sein dunkles Haar, das wild vom Kopf abstand und die blassen Augen ruhten auf dem abgenutzten Buch, das er fest in seinen dünnen Händen umklammert hielt.

Von Zeit zu Zeit schaute er hoch und suchte aufmerksam die Umgebung ab, bevor er den Blick langsam wieder senkte.

 

Der Junge sass auf einer kleinen Bank vor der Stadtbibliothek.

Die meisten Leute rauschten an ihm vorbei, ohne ihn überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.

Sie waren unterwegs zu wichtigen Meetings, Terminen, Dates oder Treffen in der Innenstadt und liessen ihre Blicke nie länger als nötig am selben Ort ruhen.

 

Der Junge sass auf einer kleinen Bank vor der Stadtbibliothek.

Regen tropfte auf sein dunkles Haar, das platt am Kopf klebte und die blassen Augen ruhten auf dem abgenutzten Buch, das er behutsam unter seinen Wollpullover schob.

Von Zeit zu Zeit schaute er hoch und suchte aufmerksam die Umgebung ab, bevor er den Blick langsam wieder senkte.

 

Der Junge sass auf einer kleinen Bank vor der Stadtbibliothek.

Die Frau lief an ihm vorbei und bemerkte ihn sofort.

Sie war unterwegs zu ihrer grossen Familie in der Vorstadt und liess sich dabei oft etwas mehr Zeit als die meisten anderen Leute, wenn sie durch die Strassen schlenderte.

 

„Oh nein“, rief sie mitleidig und blieb vor dem Jungen stehen. „Dein schöner Pullover wird ja ganz nass.“

Er blickte hoch, im Gesicht ein überraschter Ausdruck. Es kam nicht oft vor, dass jemand stehenblieb und mit ihm sprach. Und wenn doch, dann kümmerten sich diese Leute bestimmt nicht um den Zustand seiner Kleidung.

„Hallo“, erwiderte er schüchtern. „Das macht nichts. Die Sonne wird ihn wieder trocknen.“

Die Frau lächelte freundlich.  „Sag bloss, du willst hier sitzen bleiben, bis sich die Sonne wieder zeigt?“

„Warum denn nicht?“, fragte der Junge verwirrt zurück und schob das Buch vorsichtig noch ein bisschen tiefer unter seinen Pullover.

„Nun ja“, meinte die Frau und schielte nachdenklich in den Himmel. „Es wird eine Kaltfront erwartet. Viel Regen, eventuell auch starke Gewitter. Und das die ganze Woche über. Die Sonne wird sich also nur sehr selten zeigen.“

„Das macht nichts“, wiederholte er. „Ich habe Zeit.“

„Zeit“, murmelte die Frau und lässt sich das Wort auf der Zunge zergehen. „Manche haben zu viel davon und andere zu wenig. Zu welcher Gruppe gehörst du?“

Der Junge blinzelte, wischte sich nachdenklich über die nasse Stirn. „Ich weiss nicht“, erwiderte er unsicher.

Die Frau winkte ab. „Macht nichts“, antwortete sie ebenfalls und wies dann auf die Bank. „Darf ich mich zu dir setzen?“

Der Junge überlegte. Er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals gefragt wurde, ob sich jemand neben ihn setzen darf. Einerseits war er sich nicht wirklich sicher, ob das eine so gute Idee war, andererseits war er auch sehr neugierig. Warum also nicht?

Er zuckte mit den Schultern. „Okay“, meinte er leise und rückte ein Stückchen zur Seite. 

„Danke“, erwiderte die junge Frau. Sie liess sich erleichtert neben ihn plumpsen, was dazu führte, dass sich ihre weiten grauen Hosen binnen Sekunden mit Wasser vollsaugten.

„Jetzt sind Sie auch nass“, bemerkte der Junge. Die Frau lachte nur.

„Stimmt“, erwiderte sie, machte aber keine Anstalten, etwas dagegen zu unternehmen. Stattdessen holte sie tief Luft:

„Wenn ich in der Zukunft gefragt werde, neben wem ich am Montag, 5. August 2019 um 14 Uhr auf der Bank vor der Stadtbibliothek gesessen habe, was gebe ich dieser Person dann zur Antwort?“, fragte sie, streckte dabei den Kopf in den Himmel und schloss die Augen.

Er verstand nicht. „Ist das ein Rätsel?“

Die Frau lächelte. „Nein“, erwiderte sie. „Bloss Neugier. Hast du einen Namen?“

Der Junge zögerte. Er mochte es nicht, wenn Erwachsene Fragen stellten. Und schon gar nicht so viele auf einmal. Aber der Name ging wohl gerade noch in Ordnung.

„Valentin“, antwortete er deshalb und zuckte erschrocken zusammen, als in der Ferne Donnergrollen zu hören war.

„Valentin“, wiederholte die Frau murmelnd. Sie öffnete die Augen wieder.

„Und was tust du hier, Valentin?“

Wieder überlegte er lange, bevor er eine Antwort gab:

„Warten“, erwiderte er schliesslich vage und schob das Buch, welches schon wieder bis runter an seinen Hosensaum gerutscht war, erneut ein Stück hoch.

„Auf besseres Wetter?“

„Hm“, machte der Junge und starrte in den Himmel, wo dunkle Wolken über der Stadt hingen. „Unter anderem, ja.“

Die Frau nickte wissend. „Ich verstehe“, meinte sie und strich sich eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht. „Nun, das trifft sich gut. Ich warte nämlich ebenfalls.“

Der Junge wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, also lächelte er nur freundlich und blickte dann schweigend ins Leere.

„Hast du Erfahrung darin?“, fragte die Frau nach einer Weile.

„Worin?“

„Im Warten.“

„Oh“, machte er und überlegte. „Ich denke schon“, antwortete er schliesslich. „Ich warte jeden Tag.“

„Jeden Tag?“, wiederholte die Frau. Sie nickte anerkennend. „Dann bist du ein ja Profi-Wartner.“

Der Junge war sich nicht sicher, ob dieses Wort überhaupt existierte, wollte die Frau jedoch auf keinen Fall verletzen.

„Danke“, antwortete er und hob einen seiner nassen Schuhe vorsichtig aus der Pfütze, die sich vor der Bank gebildet hatte.

Sie schwiegen beide und hörten eine Weile dem Prasseln des Regens zu. Der Platz vor der Bibliothek war nun fast gänzlich leergefegt. Die meisten Menschen hatten sich in die Wärme und Behaglichkeit ihrer Häuser zurückgezogen, wo sie Tee tranken und Karten spielten. Nur diese Frau schien nach wie vor nicht das Bedürfnis zu verspüren, den Ort hier verlassen zu wollen. Das war merkwürdig. Der Junge hatte noch nie zuvor jemanden wie sie getroffen. Er schielte zu ihr.

„Mögen Sie Bücher?“, fragte er.

„Und wie“, erwiderte die Frau und klatschte freudig in die nassen Hände. „Schon als Kind habe ich unglaublich gerne gelesen. Am liebsten mochte ich die Geschichte von Robinson Crusoe. Kennst du sie?“

Der Junge keuchte überrascht. „Ja“, antwortete er aufgeregt. „Das ist auch meine Lieblingsgeschichte.“

„Tatsächlich?“, die Frau lachte erstaunt. „Das glaube ich jetzt nicht.“

Er musste ebenfalls lachen. „Es stimmt aber. Ich habe das Buch hundertdreizehn Mal gelesen. Robinson ist einfach der Beste.“

„Oh ja“, bestätigte sie. „Es ist unglaublich, was er alles geschafft hat.“

Die Frau blickte nachdenklich auf ihre Füsse, die in gelben Gummistiefeln steckten. „Leider habe ich meine Ausgabe des Buches verloren“, fuhr sie fort und der Junge konnte sehen, wie ihr Gesicht einen traurigen Ausdruck annahm.

„Verloren?“

„Ja. Eines Tages war es einfach weg. Wie vom Erdboden verschluckt. Ich muss es in der Stadt liegen gelassen haben, womöglich auch im Park, wo ich oft lese. Ich habe jahrelang danach gesucht“, sie stockte. „Ohne Erfolg.“

Er zögerte. „Und wenn Sie ein neues Robinson Crusoe Buch kaufen?“, fragte er vorsichtig. „Es gibt bestimmt noch ganz viele auf der Welt.“

„Da hast du wohl Recht“, erwiderte sie. „Aber meines...war ein ganz besonderes. Es war ein Geschenk, verstehst du? Deshalb ist es auch ganz speziell wichtig für mich.“

Der Junge nickte. „Ich verstehe.“
„Wenn ich es öffnen würde, könnte ich es auf einen Blick wiedererkennen.“

„Wie das denn?“

„Auf Seite 56 habe ich Spinat-Smoothie verschüttet. Der grosse grüne Fleck ist nicht zu übersehen.“

„Oh“, machte der Junge nachdenklich. „Und...gibt es sonst noch irgendwelche Merkmale? An denen Sie das Buch erkennen würden, meine ich?“

Die Frau lächelte. „Oh ja“, antwortete sie. „Auf Seite 108 hat mein kleiner Bruder mit Kugelschreiber alle Nomen unterstrichen. Das war eine Übung, die sich meine Tante für ihn ausgedacht hat.“

Sie seufzte. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie wütend ich war.“

Der Junge schwieg. Er glaubte, dass er sich das sogar ziemlich gut vorstellen konnte.

„Und sonst so?“, fragte er vorsichtig. „Irgendwelche Beschädigungen am Einband?“

Die Frau lächelt traurig. „Einband? Ich bin mir nicht sicher, ob der überhaupt noch existiert.“ 

Der Junge senkte den Blick. Er war sich des Gewichts des eigenen Buches, das an seinen Bauch drückte, nur allzu deutlich bewusst und aus einer plötzlichen Laune heraus zog er es hervor. 

„Hier“, meinte er schweren Herzens und streckte der jungen Frau die zerfledderte Ausgabe hin. „Ich schenke Ihnen meines. Es ist zwar schon ziemlich alt und hundertdreizehneinhalb Mal gelesen worden, aber die Buchstaben sind noch immer gut zu erkennen.“

Die Frau schluckte sprachlos. „Aber Valentin“, meinte sie gerührt. „Dieses Geschenk...kann ich doch unmöglich annehmen.“

„Ausserdem“, fuhr er unbeirrt fort und schlug das Buch an einer bestimmten Stelle auf. „Glaube ich, dass es Ihnen gehört.“

Mehrere Sekunden verstrichen. Die Frau blickte mit offenem Mund auf den grünen Klecks, ihre Augen vor Erstaunen geweitet.

„Das glaube ich jetzt nicht“, wisperte sie und griff fassungslos nach der Ausgabe. „Ist das...tatsächlich mein...?“

Er nickte stumm. „Nehmen Sie es. Ansonsten wird es noch ganz nass.“ 

Ein zögerliches Lächeln umspielte die Lippen der jungen Frau. „Danke“, hauchte sie gerührt und schob das Buch behutsam in ihren Stoffbeutel. „Du ahnst nicht, wie viel mir das bedeutet. Wie kann ich dir nur jemals danken?“

Der Junge winkte ab. „Nichts zu danken“, erwiderte er, wischte sich die nassen Hände an der Hose ab und stand auf. „Ich bin froh, hat mein Warten nun ein Ende.“

Er drehte sich um. Dann lief er langsam über den verregneten Platz. 

„Valentin“, rief die junge Frau überrascht hinter ihm her. „Nun warte doch noch kurz.“

Der Junge gab keine Antwort, setzte seinen Schritt unbeirrt fort.

„Soll das heissen, du hast die ganze Zeit gewartet, bis du den Besitzer findest?“

Er schwieg, konnte aber hören, wie die Frau aufsprang und ihm nachlief.

„Soll das heissen, du wusstest, dass das Buch jemandem anderen gehört?“

Er reagierte nicht.

„Soll das heissen, du hast es tatsächlich in der Stadt gefunden?“

Der Junge spürte eine Berührung an der Schulter. Er drehte sich um, im Gesicht ein ernster Ausdruck. 

„Wenn ich in der Zukunft gefragt werde, neben wem ich am Montag, 5. August 2019 um 14 Uhr auf der Bank vor der Stadtbibliothek gesessen habe, was gebe ich dieser Person dann zur Antwort?“, fragte er, streckte dabei den Kopf in den Himmel und schloss die Augen.

Die Frau blinzelte verwirrt. „Wie meinst du das?“ Sie liess ihre Hände unschlüssig sinken.

Der Junge lächelte. „Haben Sie einen Namen?“

„Oh“, machte die Frau und lächelte ebenfalls. „Ich heisse Susan.“

 

Die Frau sass auf einer kleinen Bank vor der Stadtbibliothek.

Die meisten Leute rauschten an ihr vorbei, ohne sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.

Sie waren unterwegs zu wichtigen Meetings, Terminen, Dates oder Treffen in der Innenstadt und liessen ihre Blicke nie länger als nötig am selben Ort ruhen.

 

Die Frau sass auf einer kleinen Bank vor der Stadtbibliothek.

Die Sonne schien auf ihr helles Haar, das wild vom Kopf abstand und die blassen Augen ruhten auf dem abgenutzten Buch, das sie fest in ihren dünnen Händen umklammert hielt.

Von Zeit zu Zeit schaute sie hoch und suchte aufmerksam die Umgebung ab, bevor sie den Blick langsam wieder senkte.

Kommentare

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Am 02.09.2022, Knjiga
Diese Geschichte ist wunderschön.
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Am 20.09.2021, Amanda_8
die Geschichte ist echt genial, weiter so!
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Am 07.08.2019, Starlight
Hallo Sera

Danke viel mal für deine Rückmeldung. Es freut mich, dass sie dir gefällt. :)

LG
Starlight
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Am 06.08.2019, sera
Eine sehr schöne Geschichte, die zum Denken motiviert.