Angst

„Ich kann das nicht.“

„Natürlich kannst du.“

„Es ist zu hoch.“

„Hab Vertrauen in dich.“

Cal blickt unsicher zu Boden. Sein Onkel Ron legt ihm aufmunternd den Arm um die Schultern.

„Trau dich, mein Junge“, sagt er lächelnd. „Du schaffst das.“

„Ich weiss nicht“, erwidert Cal und tritt vorsichtshalber noch ein paar Schritte von der Klippe zurück. Diese Höhe war doch einfach nicht zum Aushalten. Wie sollte er da jemals runterspringen können?

„Wir können natürlich auch wieder umdrehen. Es ist völlig okay, wenn du es dir...“, beginnt Ron.
„Auf keinen Fall“, ruft Cal nervös dazwischen und hält seinen Onkel zurück. „Ich mach es jetzt.“

Vorsichtig tritt er wieder einige Schritte vor. Der Rand der Klippe liegt nun direkt vor ihm. Nur noch ein klitzekleines Stück trennt ihn von der Luft. Dem Abgrund. Unter ihm verschwimmt das Wasser zu einem riesigen blauen Fleck. Cal wird schwindlig, alles beginnt sich zu drehen. So unglaublich hoch...

Er dreht sich zu seinem Onkel um, der ihm stolz zunickt. Okay. Er kann das schaffen. Es ist gar nicht so schwer. Cal atmet tief durch. Ein Schritt. Nur ein einziger Schritt, der ihm fehlt. Und dann ist es geschafft. Dann hat er seine Angst überwunden.

Aber was, wenn er falsch springt? Sich dreht? Oder hart auf dem Wasser aufschlägt?

„Nein, nein, nein“, schreit Cal und stürzt zurück zu seinem Onkel. „Ich kann einfach nicht.“

Er klammert sich an Ron und merkt, wie ihm Tränen über die Wangen laufen.

„Cal“, sagt Ron und streicht ihm beruhigend über den Rücken. „Das ist doch überhaupt kein Problem. Wenn du es heute nicht kannst, probieren wir es eben ein anderes Mal wieder. Oder gar nie mehr. Ganz wie du willst.“

„Ich will es aber heute schaffen“, antwortet Cal trotzig und löst sich aus der Umarmung. „Sonst werde ich es auch morgen und übermorgen nie tun.“

„Da hast du wohl Recht“, gibt sein Onkel zu.

„Warum kann ich nicht einfach diese blöde Angst loswerden? Am liebsten wäre ich furchtlos. Dann könnte ich alles schaffen.“

Ron lächelt. Er nimmt Cals Hände in seine und blickt ihm fest in die Augen.

„Ich glaube, das Ziel ist gar nicht, keine Angst zu haben. Sondern die Angst zu überwinden. Es zu tun. Auch wenn man sich davor fürchtet. Verstehst du das?“

Cal schweigt. Sein Blick flattert unruhig.

„Dabei ist es vollkommen egal, wann man es tut“, fährt Ron fort. „Die Hauptsache ist, dass man es tut. Jeder zu seiner Zeit. Und ich weiss, dass du das schaffen kannst. Morgen, übermorgen. Oder auch heute.“

Cals Blick gleitet zurück zur Klippe. „Überwinden“, murmelt er leise. „Es tun.“

Langsam dreht er sich zu der Klippe um. Läuft wieder bis zum Abgrund. Ein einziger Schritt und er hätte seine Angst überwunden. Nur ein einziger Schritt. Unter ihm liegt das Wasser. Es schimmert in der untergehenden Sonne. Er wirft einen Blick zu Ron. Überwinden. Es tun.

Die Höhe ist immer noch die Gleiche.

Aber Cal nicht mehr.

Ein einziger Schritt.

Cal macht ihn.