Unsterblich, sie gefühlvoll lebt(e)

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Veröffentlicht: 03.01.2019 13:42
Aktualisiert: 03.01.2019 13:42
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Kurzbeschrieb:
Dieser Text setzt sich mit der Frage auseinander, ob wir noch die menschliche Eigenschaft des Fühlens besitzen oder nicht breits kalt gegenüber anderem Leben geworden sind.

Text

Unsterblich, sie gefühlvoll lebt(e)

Wie so oft nach Feierabend wartete sie an der Bushaltestelle. Der Abend verdeckte bereits mit seinen schweren Armen sanft das Tageslicht und nur noch ein kleiner Hauch des letzten Sonnenlichtes glomm schwach orange hinter den Nebelschwaden auf, bevor auch er nieder sank.
Sie war später dran als sonst, hatte noch einiges aufarbeiten müssen. Der große Zeiger war bereits an der sieben vorbeigewandert, stand nun im senkrechten Winkel zur zwölf. Alle anderen hatten vor ihr das Büro verlassen, nun wartete sie alleine auf den Bus und würde auch noch einige Zeit warten müssen. Sie wusste, der Bus ließ sich gerne Zeit.

Einige Zeit beobachtete sie das Spiel der Blätter im Wind, wie sie auf und nieder wippten, gegeneinanderschlugen, zu Boden segelten, dem Wind zu eigen wurden. Dann zählte sie die Autos, welche sich hierher verirrten. Versuchte, sich Kennzeichen zu merken, ihre Farben, die Marke, es beschäftigte sie und doch drängte die Langeweile nur stärker nach vorn. Sie stellte sich nah vor ihr Gesicht und tippte mit langweilig großen und nicht zu kleinen Fingern voll Zaghaftigkeit und drängendem Druck gegen ihre Stirn. Und sie wusste, dass sie bleiben würde, die Langeweile, wie sie immer blieb, wenn sie einmal kam.

Aus lauter langweiliger Langeweile griff sie in ihre Manteltasche und zog ihren digitalen Beschäftigungstherapeut heraus. Als der Bildschirm grell aufleuchtete, zischte die Langeweile erschrocken auf und versteckte sich vor dem Licht, als wäre sie ein Vampir, der das ewig Dunkle suchte. Denn die Langeweile fürchtete Beschäftigung und mit ihr den digitalen Beschäftigungstherapeuten, weil er die Langweile aus den Köpfen der Menschen mit wandernden Bildern und sprechenden Gesichtern vertrieb.

Sie forderte den immer präsenten Bespaßungstherapeuten auf, ihr sämtliche Nachrichten aus aller Welt zu offenbaren, damit sie erkennen konnte, welchen Unfug die Menschheit schon wieder anzustellen versuchte. Sie las die Schlagzeilen der heutigen Meldungen nur oberflächlich, ihre Augen flogen über ein Feld aus Todesnachrichten, Bombenangriffen und Tsunamikatastrophen ungerührt hinweg. Der rechte Zeigefinger schob im wiederkehrenden Takt das Alltägliche beiseite, all jenes, was sich in den Alltag geschlichen hatte und doch diesem so fremd war. Sie versuchte es verzweifelt mit einem Bericht über Kinderarbeit in Afrika, zog die einzelnen Zeilen auseinander, durchforschte sie, durchleuchtete sie, um vielleicht doch in ihrem innersten Kern das Interesse zu finden. Vergebens.

Aus dem Augenwinkel sah sie die Langeweile sich regen. Erst mit zögernden Bewegungen, dann geschmeidig schleichend, wie eine Katze auf weichen Samptpfoten, huschte die Langeweile heran. Ihr Lächeln war gleichgültig. Desinteressiert. Der Blick ruhte freudlos auf ihren Händen. Er hatte schon zu viel Schreckliches gelesen, von der Bosheit der Menschen erfahren, als dass er sich noch regen würde, sich interessieren könnte.

Schnell suchte sie nach anderen Nachrichten, unerhörten Nachrichten, noch interessanten Nachrichten. Doch was sie auch las, von Terror und Vergewaltigung, nichts bewirkte mehr, als nur eine kurze Regung der Augenbraun. Krieg und Umweltkatastrophe hallten nicht weniger wie das Schlaflied ihrer Kindheit in den Ohren wieder. Sie wusste, sie hatte verloren, musste sich geschlagen zeigen vorder Unerträglichkeit der Langeweile.

Doch plötzlich, da blieb ihr Blick hängen, erstarrte vor Schreck. Die Augen weiteten sich, sogen Buchstabe um Buchstabe in sich ein, um den Sinn dieser eine und nur dieser einen Schlagzeile wieder und wieder zu begreifen und doch nicht begreiflicher werden zu lassen. Ihr Atem war nun nicht mehr als ein dünner Hauch zwischen Büro und Bushaltestelle, welcher vor Aufruhr in der Luft zu zittern begann. Reglos stand sie dort, beugte sich gemeinsam mit der Langeweile fassungslos über ihren Beschäftigungstherapeuten.

„Heidi Klum mit 45 Jahren frisch verlobt!“

Da holte sie tief Luft. „Siehst du, Langeweile.“
„Ja, ich sehe.“
„Ich bin nicht tot.
„Ich gebe mich geschlagen.“
Und die Langeweile verschwand.

 

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