Wenn die Not die Worte verschlingt

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Cirangle
Veröffentlicht: 06.11.2018 10:42
Aktualisiert: 06.11.2018 10:46
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Kurzbeschrieb:
Eine Momentaufnahme aus einem meiner Einsätze als Notfallseelsorgerin

Text

Nachdem ich die letzten Monate nur sporadisch Bereitschaften übernehmen konnte, war ich nun an einem Tag im Juni bereits 24h „einsatzbereit“, und nun kam eine Alarmierung durch meinen Hintergrundienst, 15:26 Uhr.

Für mich sind diese Anrufe weder aufregend, noch pulsbeschleunigend, und ich frage mich in welchem Moment sich der rationale Filter vor meine Augen, Ohren und Gehirn gelegt hat. Im Rückblick fällt mir das besonders auf, besonders in meinem hauptberuflichen Aufgabenfeld. Liegt es an den Jahren, die ich mich mit diesem Thema nun auch professionell auseinandersetze und den Schrecken immer mehr verliere? Oder an meinen Lebensjahrzehnten, in denen ich auch da ungewollt und mehrmals mit Tod und Trauer konfrontiert wurde?

Ich packe also in aller Ruhe meine Tasche, Notizblock ,Stift, Kerze, Feuerzeug, Müsliriegel und werfe mein KIT-Shirt über, den Ausweise clippe ich an meine Hosentasche. Es ist zwar Sommer, aber seit Tagen beehrt uns ein Regenwetter, welches glauben lässt, dem Herbst wird es in seiner Abstinenz zu langweilig. In der Zwischenzeit erreicht mich eine SMS mit Daten zum Verstorbenen und den Ort des Geschehens. In diesem Fall im Krankenhausbereich, Intensivstation. Es geht um ein hohes Maß an Ungewissheit, Hirntoddiagnostik,  plötzlich und unerwartet, im Fachjargon „erschwerte Trauer“ genannt.

Meine Einsatzmappe klemme ich unter meinen rechten Arm und schnappe meinen Autoschlüssel, ziehe die Tür hinter mir zu und verharre einen Moment, in dem ich im Kopf prüfe, ob ich alles Notwendige dabei habe.Laufe die Treppe hinunter und setze mich ins Auto. Beim Fahren konzentriere ich mich auf die Strecke, Gedanken über die Situation, die mich möglicherweise erwarten wird, kommen nur sporadisch. Erwartungshaltungen oder Rückschlüsse, durch die mir wenig bekannten Fakten habe ich mir abgewöhnt, sie existieren meist nur in der Fanatasie, und treten nur bedingt so ein, wie es der Kopf so vor sich hin denkt.

An Krankenhäusern herrscht oft Parkplatzmangel, und während ich so bei mir denke, dass es doch nett wäre im Falle eines Regenschauers wieder relativ trocken zum Auto zurück zu gelangen, muss ich über diese alltäglichen Gedanken lachen, und an diesen  Schutzmechanismus des Gehirns: Normalität.

Auf der Station angekommen stelle ich mich namentlich und in meiner Funktion vor, und werde sehr freundlich begrüßt:

„Oh, wie schön, dass sie da sind! Ich erzähle Ihnen was passiert ist. Und das ist der Kollege, der das Zimmer pflegerisch betreut.“

Ich werde dem Krankenpfleger M. vorgestellt, die Ärztin unterrichtet mich zu dem Sachverhalt. Eine 54-Jährige Frau habe gestern plötzlich bei einer Radtour einen Schwächeanfall mit Rückenschmerzen und starken Sehbeeinträchtigungen erlitten, und ist im ansässigen, regionalen Krankenhaus versorgt worden, bis sich nach langer Wartezeit eine infauste Diagnose und Prognose herausgestellt hatte. So schnell wie möglich wurde sie in das Krankenhaus, in welchem ich mich nun befinde und diese Geschichte erzählt bekomme, geflogen und notoperiert. Leider gab es einige Komplikationen, die mit dem Leben nicht mehr vereinbar waren, und ich werde  in eine Betreuungssituation kommen, in welcher der Ehemann am Bett seiner Frau wacht, wohl wissend, dass die erste Hirntoddiagnostik bereits negativ ausfiel und somit die geringe Hoffnung noch etwas mehr verblasste. Eine Situation, in welcher der Organismus des Patienten durch Maschinen aufrechterhalten wird, die Beatmungsmaschine den Brustkorb hebt und senkt und viele Perfusoren mit intravenösen Medikamenten Blutdruck, Stoffwechsel, Puls steuern und eine Art externer Schrittmacher das Herz auf exakt 100 Schlägen pro Minute schlagen lässt. Wie sollte man da glauben, dass dieser Körper eigentlich nur noch mechanisch funktioniert, aber kein Leben darin steckt?

Ich betrete in Begleitung des Krankenpflegers M. das Zimmer 1, bleibe stehen und lasse die Atmosphäre auf mich wirken. Das Piepen des Monitors, auf dem die Vitalparameter überwacht werden, und das Blinken der aktiven Perfusoren wirken auf mich so skurril und gleichzeitig vertraut, es erinnert mich an meine Pflegeprüfungszeit auf einer chirurgischen Intensivstation und die Geräusche, die damals noch zu Hause nach Feierabend im Ohr klingelten.

Der Ehemann steht mit dem Rücken zu mir, über seine Frau gebeugt schmiegt er sein Gesicht weinend an ihres.

„Herr Z.?“

Er lässt Kopf den am Gesicht seiner Frau und erwidert leise: „Ja?“

„Guten Tag! Ich bin Frau D. vom Kriseninterventionsteam und wurde von den Kollegen der Station benachrichtigt. Ich werde nun in den kommenden Stunden an Ihrer Seite sein“

Er hebt nun den Kopf und gibt mir die Hand zur Begrüßung.

„Das ist gut, dass sie da sind!“

Ich schaue an die Uhr über der Tür. 16:15 Uhr. Interventionsbeginn also, und speicherte es in meinem mentalen Protokoll für meine späteren Aufzeichnungen, und wende mich wieder Herrn Z. zu.

In der Regel nehme ich in den ersten Momenten der Intervention eine passive Rolle ein, halte die Situation zusammen mit den Betroffenen aus. Je nach Bauchgefühl biete ich mit einem Eingangssatz einen Gesprächsfaden. Ob dieser nun aufgegrifffen wird, oder nicht spielt für mich keine entscheidende Rolle. Die Fragen stellen sich meist nach einer Neusortierung des Gehirns und der Gedanken der Angehörigen automatisch ein.

Es fühlt sich an wie ein Umherrirren im dichten Nebel, nicht wahr?„, sagte ich zu Herrn Z.

Oh ja, es ist wie ein Alptraum, und sicher wache ich gleich wieder auf!

Er sieht zu seiner Frau: „Ich bin fest davon ausgangen, dass ich dich heute wieder mit nach Hause nehme. Und hast du nicht erst in der Notaufnahme gesagt, dass du wohl wahrscheinlich kürzer treten solltest? Dafür ist es wohl leider zu spät!“ Er streichelt ihren linken Oberarm.

Er seufzt und Tränen laufen über seine Wangen. Ich nehme eines der Tücher aus dem Spender im Zimmer und reiche es ihm, während er aus der Hosentasche sein vibrierendes Handy zieht.

In diesem Fall passierte nun etwas Spannendes, was sich letztendlich durch die gesamte Intervention zog, und sicherlich ein Sinnbild unserer modernen, schnellen Gesellschaft darstellt: ständige digitale Erreichbarkeit ergo WhatsApp und Co.

Als ich mir den Verstorbenen ansah, beobachtete ich gleichzeitig den Ehemann, welcher nun bereits Nachrichten eintippte. Es war deutlich spürbar, dass das Interesse seitens der  Angehörigen und Freunde in der Heimat stark war, und die Fragen nach dem Zustand der Frau reichlich einflogen. Doch wie verändert sich meine Betreuung mit diesen Medien? Ändert sich die Verarbeitung der Situation, die Trauer und die zwischenmenschlichen (offline) Gespräche?

In einem kurzen Moment hinterfragte ich zum ersten Mal an diesem Abend die Indikation meiner Anwesenheit, besser ausgedrückt die Priorität in Anbetracht der Tatsache, dass sich die Kommunikation zwischen Notfallseelsorger und Betroffenen nicht etwa durch die akustischen Signale der Beatmungsgeräte oder Monitore, oder zwischenzeitlichen Abläufe eines Krankenhauses beeinflussen lässt, sondern auch durch Piepstöne aus dem Telefon. Ich fragte mich auch, wie dynamisch sich die Hemmschwelle der Notlügen verändert, wenn man die Wahrheit lieber offline, aber online schon eine Antwort auf drängende Fragen geben möchte.

Etwa 10 Minuten später kam der Krankenpfleger M. dazu, versuchte einige Kabel und Schläuche durch Abdeckungen unsichtbar zu machen:

Ich würde gerne noch etwas verändern, damit es nicht nach Intensivmedizin aussieht. Aber ich weiß nicht so recht was.

Er setzt sich auf einen Rollhocker und betrachtet den Monitor, der die Vitalparameter aufzeichnet. Dann sieht er den Patienten an und holte tief Luft. Man merkt ihm deutlich an, dass er gerne aktiv helfen möchte, aber nicht kann, und das Gefühl von Ohnmacht in diesem Moment nur schwer auszuhalten ist, so wie für alle Beteiligten.

Warum hat der Tod bei uns so einen Schrecken? Und in anderen Ländern und Religionen wird gefeiert und offen darüber geredet?„, fragte Herr Z. in das Schweigen hinein.

„Es wird vermutlich mehrere Gründe geben, aber besonders, dass dieses Thema in manchen Gesellschaften von Kindesbeinen an dazu gehört.“, erwiderte ich.

Das stimmt, da haben sie Recht. Hier wird einfach nicht oder zu wenig darüber gesprochen.„, nickte er zustimmend.“Wir haben auch nie daran gedacht, dass es uns so erwischen würde.“

Die Tür öffnet sich, und der diensthabende Arzt kommt herein, geht auf mich zu.

„Wir würden jetzt mit der zweiten Hirntoddiagnostik beginnen, dazu muss ich sie leider in den Personalaufenthaltsraum bitten. Wir geben Ihnen dann Bescheid.

Ich informiere Herrn Z. über das weitere Vorgehen der Mediziner und gehe mit ihm in den besagten Raum, organisiere Wasser und Kaffee, und setze mich mit ihm an den Tisch. Er erwartet noch Angehörige, die bei der Diagnosestellung und dem Gespräch dabei sein sollten:  die Mutter des Patienten, ihre 4 Kinder sowie der Exmann.

Es sind bereits 2 Stunden vergangen, und durch die diensthabende Ärztin vom Nachmittag wusste ich, dass wir auch noch folgendes Gesprächsthema vor uns haben: Organspende.

Ich kläre Herrn Z. darüber auf, dass noch ein Koordinator der DSO (Deutsche Stiftung Organtransplantation) mit ihm sprechen muss, und frage ob seine Frau und er sich darüber in der Vergangenheit austauscht hatten.

„Nein nie, sie hat auch keinen Ausweis. Aber ich möchte sie auch so lassen wie sie ist, mir gefällt der Gedanke an Organspende nicht.“

Während Herr Z. und ich unser Gespräch fortführen, öffnet sich die Schiebetür zum Aufenthaltsraum. Ein Pfleger in Begleitung einer älteren Dame. Die Mutter des Patienten, und somit die Erste der zu erwartenden Angehörigen.

In Begleitung war ein Mann, ihr Lebensgefährte, aber nicht der Vater der Betroffenen, wie sich später herausstellte.

Innerhalb einer Stunde kamen nun die restlichen Angehörigen dazu, setzten sich an den Tisch, und so saßen wir in großer Runde, jeder in seinen eigenen Gedanken versunken, und von denen auch die meisten laut ausgesprochen wurden.

„Mama ist Hirntod. Hirntod! Da kann man nichts mehr retten!“

“Das kann dich gar nicht sein! Wie soll es denn jetzt weitergehen?!”

“Vorgestern war doch noch alles in Ordnung?!”

Den Kopf schüttelnd, unruhiges Aufstehen und wieder Hinsetzen. Wasser einschenken. Blicke abwechseln zwischen Ziffernblatt der Wanduhr und Handydisplay.

Die veranschlagte Zeit für die Hirntoddiagnostik wurde bereits um 30 Minuten überschritten, für Angehörige eine Qual, und ich biete mich an bei den Ärzten nachzufragen. Ich verlasse den Aufenthaltsraum und gehe zum Patientenzimmer, in dem sich zwei Ärzte und der DSO-Beauftragte befinden, und frage nach dem aktuellen Stand.

„Ungefähr 10 Minuten wird es noch dauern, dann kommt der Arzt zu Ihnen und wird sie über die Diagnose aufklären.“

Diese Rückmeldung gebe ich den Angehörigen weiter, allerdings vermeide ich die konkrete Zeitangabe, und sage, dass noch eine Untersuchung nötig ist, der Neurologe aber anschließend umgehend zu uns kommen wird.

Die zweite Hirntoddiagnostik bestätigt die Erste, die Neurologen klären die Familie auf und übergeben anschließend das Gespräch an den DSO-Dispatcher. Dieser nimmt die Entscheidung einstimmig gegen eine Organentnahme an und verabschiedet sich.

Es werden Fragen gestellt, beantwortet und anschließend die Möglichkeit einer Abschiednahme vor dem Abschalten der medizinischen Geräte angeboten, die dankend von der Familie angenommen wird.
Als ich mich nach der Intervention auf dem Rückweg zu meinem Auto befinde, Was sich jedesmal ein bisschen anfühlt wie eine Rückkehr aus einer Blase mit anderem Raum-Zeit-Empfinden, schaue ich auf die Uhr. 20:30 Uhr. Etwas über vier Stunden Betreuungszeit, notiere dies und andere Daten auf meinem Protokoll. Ich signalisiere meinem Hintergrunddienst das Ende meines Einsatzes, stelle meinen Status auf „verfügbar“, setze mich in mein Auto und fahr los.

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