Code:Cloud (Teil 2)

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INSTU
Veröffentlicht: 25.10.2018 21:40
Aktualisiert: 25.10.2018 21:42
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Kurzbeschrieb:
Der zweite Teil der etwas anderen "Er-wachte-auf-Geschichte".
Zum ersten Teil: https://www.schreibdichfrei.net/texte/text/3516/

Text

2
Die Hilflosigkeit drohte mich zu zermürben. Dieses Gefühl. Diese Unfähigkeit, sein Handeln zu lenken. Unbeschreiblich, nicht zu begreifen. Die Ungewissheit inmitten des Ungewissen.

Doch da war Licht. Licht am Ende des Tunnels. Des Tunnels aus Zahlen, Ziffern, Farben. Ein Gedanke, nur einer, schien den Kampf gegen das Unbeschreibliche zu bestreiten, sich durchzuschlagen, bis zum Durchblick, bis zur Einsicht. Genau so unfassbar und unermesslich wie Zweifel, doch schöner und klarer, heller und leuchtender. Ich wusste ohne jegliche Bedenken, dass dieses Etwas der Weg aus dieser Gedankenblockade sein musste. Dieser Befehl, diese Richtung, in die mein Handeln gehen sollte, schien seltsam fremd. Als wäre der Gedanke daran nicht von mir selber, als hätte man mir diese Möglichkeit von außen zugespielt, mir weitergeholfen, doch gegen meinen Willen. Trotzdem wusste ich unweigerlich und augenblicklich, dass kein Weg mich an dieser Handlung vorbeizuführen vermochte, vorbeiführen sollte. Ich hatte keine Wahl. Ich blickte dem seltsamen Wesen vor mir tief in die Augen oder zumindest an die Stellen, an denen die Sehorgane zu vermuten waren.

“Was ist Tetrania?”

Stille. Ein weiterer Augenblick der Stille in dieser unheimlichen Umgebung. Die Silhouette vor mir hatte ganz offensichtlich nicht mit einer Frage meinerseits gerechnet. Sie bewegte sich weiterhin nicht von der Stelle, sondern verharrte wie angefroren auf der weißen Plattform vor mir.

“Tetrania. Wie jedes Programm werden Sie an diesen guten Ort begleitet, wo Sie ein unbeschwertes und ganz natürliches Leben führen können. Schreiten Sie einfach durch das Portal vor Ihnen!”

Dieses Etwas vor mir hatte meine ernstgemeinte Frage ganz offensichtlich nicht verstanden. Doch anstatt gleich noch einmal zu einer Frage anzusetzen, auf die wohl auch dieses Mal keine vernünftige Antwort gefolgt wäre, entschied ich mich dazu, die wenigen Informationen, welche die Silhouette von sich gegeben hatte, genauer zu studieren. Ein Wort fiel mir dabei sofort und unweigerlich auf. Die Silhouette vor mir behauptete doch gerade ernsthaft, ich sei ein Programm, habe einen Bestimmungsort, würde mich dort mit anderen meiner Art treffen und ein gutes Leben führen. Obwohl ich keine Ahnung hatte, wo ich war, wie ich aussah, geschweige denn was ich war, wurde mir ein Umstand immer deutlicher! Ich war kein Programm! Ich war ein Mensch, gefangen in einem Programm oder so ähnlich. Vielmehr war das Ding vor mir ein Programm, nicht ich.

“Ich bin kein Programm.” entgegnete ich voller Selbstbewusstsein und menschlichem Stolz.

“Ich bin ein Mensch, bestehe aus lebendem Gewebe. Ich fühle es!”

Auf den, aus lauter Zahlen und Ziffern bestehenden, grellblauen Lippen meines Gesprächspartners, wenn man das Ding vor mir als solchen bezeichnen durfte, zeichnete sich ein sanftes Lächeln ab. Offenbar war dieses Etwas in meiner unmittelbaren Nähe doch im Stande, Emotionen zu zeigen, ein kleines Spektrum menschlichen Ausdrucks abzudecken.

“Cloud-171b”. Abermals fröstelte mir, beim Klang der künstlich wirkenden, fast schon geisterhaft distanziert scheinenden, Stimme.

“Du bist, was du bist. Für etwas Großes bestimmt. Zusammen mit den Anderen, sich vereinend zur unglaublichen Schönheit, zur Perfektion, zur reinen Weisheit, zur Cloud.”

Vor einigen wenigen Momenten sich noch stur stellend, offenbarte mir mein Gegenüber innerhalb von Sekunden meine angebliche Bestimmung, lächelte mich selbstsicher und überzeugend an, verharrte weiterhin andächtig an seinem angestammten Platz, wie eingefroren, keinen Schritt tuend. Vorher noch absolut unbrauchbar, erschlugen mich nun die unzähligen Informationen verschachtelt in einem einzigen, fast schon andächtig wirkenden, Satz.
Nun wusste ich mit absoluter Gewissheit, dass Cloud nicht mein richtiger Name sein konnte. Offenbar stand er bezeichnend für etwas ganz anderes, etwas, das offenbar die Prädikate Schönheit, Perfektion und reine Weisheit in sich zu verbinden im Stande war. Wenn diese Worte nicht absolut zusammenhangslos gefallen waren und keine maßgebliche Übertreibung darstellten, musste diese Cloud wohl oder übel der schiere Wahnsinn sein. Ich war schon drauf und dran, den äußerst überzeugenden Bezeichnungen dieser unbekannten Sache zu erliegen, meinem inneren Drang nach Unbeschwertheit und Vertrauen Folge zu leisten, durch das vor mir weiterhin blinkende Portal zu schreiten.
Doch dann besann ich mich wieder auf meine unmissverständliche Eingebung, nach der zweifellos mein weiteres Handeln zu richten war: Ich durfte nicht aufhören, Fragen zu stellen.

“Was bist du?”

Langsam, aber sicher schien sich die gelassene Miene meines Gesprächspartners zu einer angespannten zu verziehen. Die Silhouette begann sich langsam zu bewegen, kam mir stetig näher und schien, in ein völlig anderes Licht getaucht, plötzlich wie eine exakte dreidimensionale Nachbildung eines Menschen. Eines Menschen ohne Geschlecht, ohne Gewissen. Eines Menschen ohne das Menschliche, so schien es mir.
“Cloud-171b. Bitte folgen Sie unserem Rat. Vertrauen Sie unserer Perfektion. Unserer Schönheit. Unserer Weisheit.”
Mal abgesehen davon, dass mir das inzwischen ungemütlich nahe gerückte Wesen weder als perfekt, weise, geschweige denn als schön vorkam, sondern eher unheimlich und unnatürlich, künstlich, hatte es sich offenbar gerade selber verraten. Für mich bestand in diesem Moment kein Zweifel, dass dieses es, die Cloud, sein musste. Wer redet denn sonst von sich in Mehrzahl, außer selbstverliebte Monarchen oder Schizophrenie-Patienten?
“Vereinen Sie sich mit uns, werden Sie der vorbestimmte Teil unserer Vollkommenheit. Sie werden ein normales Leben führen, völlig unbeschwert, in perfekter Umgebung, doch mit einer größeren Bestimmung. Was will der Mensch mehr, als eigenes Glück und vollständige Erfüllung in der Gemeinschaft?”
Ich war wohl nicht dazu angehalten, auf die mir gestellte Frage zu antworten, so schien es mir zumindest. So unbeirrbar und felsenfest die Cloud bisher auch geblieben war, in einem Punkt hatte sie mir soeben recht gegeben: Sie hatte mich als Menschen bezeichnet. Oder war das nichts weiter als ein psychologischer Trick, um mir meine Ängste, meine Zweifel zu nehmen, um mir das Durchschreiten des Portals schmackhaft zu machen?
Langsam, aber sicher wurde es verdammt schwer, eine Entscheidung zu treffen. Ich fühlte mich irgendwie umzingelt, kaum zu einer Regung fähig. Doch im Grunde blieb mir doch keine andere Wahl: Ich musste abermals eine Frage stellen.

“Wo bin ich hier?”

Und genau diese eine Frage war offenbar zu viel des Guten. Die zuvor blaue Gestalt verfärbte sich augenblicklich rot, jede Ziffer eine andere Schattierung. Rot in seiner ganzen Pracht. Diese unglaubliche Vielfalt war atemberaubend schön. Bestimmt wäre jeder Künstler vor dieser Gestalt auf die Knie gesunken, hätte sich in der Vollkommenheit der Rottöne gelabt, die Farben am liebsten dem fremden Körper entrissen und der eigenen Kreativität überlassen. Doch so ein Mensch war ich nicht. Nur Mensch, das war ich.

Die Cloud schien zu pulsieren, Druckwellen durchstießen meine Umgebung, wie ein roter Schimmer, wie die Schallmauer einer Explosion. Ich drohte umzukippen. Zumindest fühlte es sich so an, schließlich befand ich mich ja weiterhin in einem Zustand des Schwebens.
Aus der Ferne des leuchtenden Tunnels, der weiterhin unverändert, doch in ständig fließender Bewegung, an uns vorbeizog, schienen es einige bestimmte Ziffern auf unsere Plattform abgesehen zu haben. Auch sie schimmerten dunkelrot, glitzerten vor sich hin und machten in ihrer Art der Bewegung, der hektischen Richtungswechsel, unaufhörlich zuckend, in kürzester Zeit weite Distanzen gut. Diese Zahlen, die Einsen und Nullen schienen auf ihre ganz spezielle Weise aggressiv, gereizt. Nur noch wenige Meter von unserer Plattform

entfernt, stoppten sie augenblicklich, sammelten sich in Windeseile, formten kettenartige Strukturen. Obwohl nur virtuell und aus Binärcode bestehend, machten sie einen Eindruck von Schwere, als wären sie aus massivem Metall geschmiedet worden. Nun folgte, was ganz offensichtlich folgen musste: Die roten Ketten legten sich eng um mein virtuelles Ich, zogen sich zusammen, ließen mir kaum Luft zum Atmen. Ich wusste von Anfang an, dass es unnötiger Aufwand gewesen wäre zu versuchen, mich aus den Fesseln zu entwinden, gar zu versuchen, sie mit enormen Druck zu zerbersten. Nichts hielt sie zusammen, trotzdem verrichteten sie ihren Dienst ohne Beanstandung, wohl zuverlässiger als jedes feste Material ihn zu tun vermochten.

Die Cloud schritt mit hoch erhobenem Kopf auf mich zu, bis sie schließlich mit ihrem Oberkörper die roten Fesseln berührte und begann, mich aus voller Kehle anzuschreien: “Widerstand ist zwecklos. So dumm, so dumm. Warum weigerst du dich, dich erwartet nichts als Schönheit, Perfektion und das reine Wissen. Deine erbärmlichen Fragen beleidigen mein vollkommenes Wesen. Du wirst nicht nach Tetrania reisen, niemals! Wir haben einen besseren Ort für dich.”
Hätte es in dieser Welt Flüssigkeiten gegeben, wäre ich wohl während dieser Standpauke einer regelrechten Volldusche aus Speichel unterzogen worden, so energisch und aus tiefsten Inneren brüllte es mir entgegen. Der knallrot gefärbte Körper meines Gesprächspartners bebte, jede einzelne Eins, jede einzelne Null schien sich auf einer vorgegebenen, aber äußerst verworfenen Bahn zu bewegen. Als könnte sich die menschlich anmutende Gestalt der Cloud jederzeit in seine unzähligen Bestandteile auflösen, sich verstreuen in tausend Richtungen, verschwinden in den Unweiten der pulsierenden Tunnel oder aber sich zu etwas Neuem, einer völlig anderen Gestalt, wandeln. Auch hier wäre wohl zahlreichen Kunstfanatikern wieder der Kinnladen runter gehangen, man stelle sich doch einmal eine sich sternförmig ausbreitende Explosion vor, bestehend aus sämtlichen Rottönen der irdischen Farbenlehre.

Doch die Cloud barst nicht, zumindest vorerst. Mir blieb also noch ein wenig Zeit, um weitere Überlegungen anzustellen, bevor mir das große “Wir” vor mir im wahrsten Sinne des Wortes um die Ohren flog.

Doch meine persönliche Bedenkzeit war offenbar nicht zu berücksichtigen, die perfekte Vollkommenheit schien ihren Plan ohne Verzögerungen in die Tat umsetzen zu wollen. Langsam, aber stetig an Geschwindigkeit gewinnend, bewegte sich unsere Plattform durch den Zahlentunnel, raste vorbei an unendlich vielen blauen und grünen Ziffern, entgegengesetzt derer Laufrichtung. Nach einer langgezogenen Rechtskurve bogen wir in einen riesigen, rechteckigen Raum ein, der wiederum von tausenden Ziffern begrenzt und durchquert wurde. An den Wänden waren an dutzenden Stellen exakt gleich große Tunnelöffnungen angebracht, die alle jeweils unmittelbar nach dem Eingang eine Linkskurve machten, und in mir unbekannte Weiten verschwanden. In der genauen geometrischen Mitte des Raumes befand sich ein silberner, gleichmäßig schimmernder Quader, der stetig und abwechselnd kleine Bewegungen nach oben und unten ausführte. Aus und in den Quader herrschte reger Verkehr, sämtliche Einsen und Nullen und auch wir hatten offenbar von Anfang an ein vorbestimmtes Ziel, den Quader im Zentrum.

“Das Zentrum, unsere Heimat. Hier darfst du eigentlich nicht hin, aber deine besonderen Umstände machen eine Inhaftierung deiner Winzigkeit unabdingbar. Doch keine Angst. Dir wird nichts geschehen, dafür wird unser Master sorgen. Vertraue uns!”

Dass ich früher oder später in Gefangenschaft geraten würde, war mir aufgrund der um mich gewickelten Fesseln bereits zu einem früheren Zeitpunkt klar geworden.

Doch aus meiner frühen Erkenntnis konnte ich trotzdem kein Kapital schlagen, war ich nun einmal mehr in der gleichen Situation, wie unmittelbar vor meinem Versuch, ein Gespräch mit der Cloud zu führen: Ich wusste ganz einfach nicht, was ich tun sollte, wie meine nächste Handlung aussehen musste. Die eisern wirkenden, virtuellen Ketten, die mich umfassten, schienen relativ massiv, doch nicht unzerstörbar. Ich hatte plötzlich das unbeirrbare Gefühl, ich könnte meine Fesseln lösen und das tun, was ich vielleicht schon lange hätte tun sollen, den Kampf zu beginnen, die Cloud zu attackieren, meiner eigenen Macht zu vertrauen, auch wenn diese in diesen Breiten beschränkt sein mochte. Das Schweben hatte ich inzwischen bis zu einem gewissen Grad im Griff und ich fühlte mich absolut bereit für einen Angriff.

Doch verbarg sich im Zentrum dieses unermesslichen Raumes vielleicht eine Antwort auf alle meine Fragen, die mir schon wieder zuhauf durch den Schädel schossen und alle darauf warteten, in brauchbare Antworten aufgelöst zu werden. So hatte ich doch weiterhin nicht den Hauch einer Ahnung, wo ich mich aktuell befinden könnte. Der angesprochene “Master” wäre sicher die geeignete Ansprechperson und würde sich mit Bestimmtheit weniger stur stellen als die Cloud, die von ihrer angeblich unermesslichen Weisheit, zu meinem Bedauern, bis jetzt herzlich wenig preisgegeben hatte. Ein unüberlegter Anfall von Wut hätte diese potenzielle Quelle eventuell, direkt vor meinen Augen, für immer versiegen lassen.

Vielleicht musste ich aber doch langsam das tun, was mir die Cloud stetig angeboten hatte, durch das Portal nach Tetrania entweichen. Mit diesem Schachzug hätte “das große Wir” mit Sicherheit nicht gerechnet, das Überraschungsmoment wäre auf meiner Seite. Ich könnte die Cloud von innen her erforschen und versuchen zu verstehen, was sie eigentlich war. Aber genau hier lag auch das größte Problem dieser Handlungsmöglichkeit: Würde ich denn nicht mit ihr verschmelzen? Hätte ich die Kraft, mich dem Sog des Gemeinsamen zu entziehen? Wie würde es in diesem Tetrania überhaupt aussehen? Diese Reise wäre wohl eine ins Ungewisse.

So stand ich also einmal mehr auf dieser Plattform und wusste nicht weiter.
Meine einzige Hoffnung war wohl wieder eine solche Eingebung, wie sie mir vor meinem Gespräch mit der Cloud aus unbekannter Quelle zugeflogen war. Wäre mein Hirn, oder woher diese plötzliche Klarheit auch gekommen war, zu einem zweiten solchen Entscheid im Stande? Oder würde meine Handlungsunfähigkeit zu einer Katastrophe führen?

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