Der lächelnde Exitus

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Smiling Exitus
Veröffentlicht: 19.10.2018 15:26
Aktualisiert: 19.10.2018 15:26
Kategorie: Dies & Das
Tags: Alltag, Arbeit, Leben, Tod
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Kurzbeschrieb:
Jonathan Wagner beginnt sein Tag wie üblich. Er steigt in das Tram, setzt sich hin und beobachtet die Strassen des frühen Morgens. Doch als das Gefährt abrupt abbremst und ihn damit aus dem Sitz schleudert, beginnt der steile Fall des Jonathan Wagner.

Text

Der lächelnde Exitus

 

Es begann wie eine Liebesgeschichte. Ich musste mich beeilen, das Tram fuhr in zwei Minuten, für den Weg brauchte ich normalerweise vier. Strömender Regen prasselte unaufhörlich auf die Pflastersteine. Die Leute benahmen sich, als wären sie noch nie bei schlechtem Wetter Draussen gewesen. Hunderte Regenschirme, senkrecht nach oben gerichtet, obwohl der Regen von der Seite kam. Ich hatte es zu eilig, um meinen Schirm zu suchen, die Kapuze tat es auch.  Im Endeffekt war meine Anhängetasche trockener als manche Handtasche einer Frau, die mehr Geld wert ist, als ich in zehn Jahren in Jeans investiere. Mein Keuchen ging in der Geräuschkulisse der Stadt unter, als ich die Station namens St. Maria erreichte. Die digitale Anzeige war verschmiert, man konnte die Zeit verbleibend bis zur Ankunft kaum lesen, wobei das gar nicht nötig war. Ich fühlte, hörte und sah es. Der Boden vibrierte, kaum spürbar, die Gleise inmitten der Strasse pfiffen, wie es eben Gleise tun, wenn ein Zug darauf fährt und man aufmerksam genug ist und langsam kroch das Licht der beiden Scheinwerfer des Trams aus dem Dunst des Regens. Unverständlich, wie die Passanten unbekümmert stehen blieben, als das Gefährt unmittelbar daran war, sie zu überfahren. Erschrocken und empört sprangen diese dann zur Seite, als wäre der Tramführer dafür verantwortlich, dass sie auf den Gleisen standen. Die mittlerweile vierzig Jahre alten Türen öffneten sich quietschend. Faszinierend, dass solch eine Technologie nach so langer Zeit immer noch funktionierte und vor allem noch benutzt wurde. In der Hoffnung, noch einen freien Platz zu erwischen, liess ich einige Schimpfwörter über mich ergehen, von ebendiesen Leuten, welche vorher fast das Tram nicht wie ich durch dezentes Drücken und Drängeln im Eingangsbereich sondern durch ihre leblosen Körper unter beziehungsweise vor den Rädern blockiert hätten. Es kümmerte mich kein Bisschen. Mein eher frevelhaftes Benehmen stellte sich als erfolgreich heraus. Ein guter Platz, direkt am Fenster.

Dann trafen sich unsere Blicke. Ich, ein durchschnittlich aussehender Mann Mitte zwanzig, er, ein magerer Rentner in Regenmantel. Die Haut im Gesicht blass wie nie gesehen, die Augen tief in den Höhlen. Er lächelte. Mehr nicht. Ich lächelte unbeholfen zurück. Ein Kind, welches stand, der Schulrucksack grösser als es selbst schaute mich ungläubig an. Ich kam mir gleich zehn Jahre älter vor, als ich im Stillen die heutigen Erziehungsmethoden verfluchte. Eine Weiche nahte, der Inhalt des Trams wurde wild durcheinandergeschüttelt, meine Schulter traf auf den metallenen Rahmen um das Fenster, was nicht gerade angenehm war.  Als ich mich wiederaufrichtete, war der Mann nirgendwo zu sehen. Unmöglich! dachte ich mir. Das Kind, welches mich anstarrte, war jedenfalls noch da. Mit imaginären Händen wild fuchtelnd vertrieb ich dieses Ereignis aus meinem Gedächtnis, ich musste mir etwas eingebildet haben. Draussen spielte sich das übliche Treiben ab, Montagmorgen, halb sieben, Stau. Überall blinkten Lichter und Ampeln, dumpf vernahm ich das Hupen der aufgebrachten Arbeitnehmenden und das Quietschen deren Reifen, wenn endlich das Licht von Grün auf Rot wechselte. Erneut blickte ich auf den Platz gegenüber von mir, nur um sicherzugehen, dass ich vorhin nicht geträumt hatte, beziehungsweise ebendies tat. Denn wie erwartet war der Platz leer, doch das brachte keine Erkenntnis, beide Möglichkeiten standen offen. Mittlerweile war kaum Müdigkeit mehr vorhanden, das Ruckeln und Schütteln des Trams hielt mich voll und ganz wach. Jedoch reichte diese Wachsamkeit nicht, um zu bemerken, dass der Wagon daran war, rapid abzubremsen. Ich konnte mich nicht rechtzeitig festhalten, einen Moment später sass ich etwas unbequem im Sitz gegenüber. Das heisst, nur mein Oberkörper erhielt den Komfort, der Halt hatte mich aus meinem Sitzplatz zwei Meter nach vorne geschleudert, so hing ich also auf der halbhohen Abgrenzung zum Eingangsbereich. Mein Körper schmerzte, als wäre er gerade als Piñata missbraucht worden, und machte auch keine Anstalten, sich zu bewegen. Im Augenwinkel erschien der Schulrucksack, der das Kind zu tragen schien, und starrte mich erneut an. Ich wollte etwas sagen, etwas harrsches, unfreundliches, wie es nur ein kriegstraumatisierter Rentner zu einem Musterbeispiel der heutigen Jugend sagen würde, doch es entlockte mir nur ein eher armseliges Krächzen. Etwas berührte meine linke Schulter, eine Hand, dann erklang eine Stimme: «Kann ich ihnen helfen?», eine Frau, jüngere Generation. «Ähh… ich- ich glaube ja, das wär’ toll, gerne», stöhnte ich zurück. Sogleich begann sie, meinen Oberkörper behutsam aufzurichten. Die rechte Gesichtshälfte surrte ein wenig, auf ihr hatte fast mein ganzes Gewicht gelegen, während sie sich in abgenutzten Stoffbezug vergraben hatte. Zum Glück stand das Tram mittlerweile still, es gelang mir jedenfalls so wesentlich leichter, mich aufzurichten und auf meinen Platz zurückzukehren. Das Abteil hatte sich geleert, es befand sich niemand ausser der Helferin von vorhin und mir darin. Ebenso ruckartig, wie es abgebremst hatte, setzte sich das Gefährt in Gang. Erschöpft und etwas gequält sank ich in den Sitz und legte meinen Kopf zur Seite. Draussen zog ein gläsernes Gebäude vorbei, darin waren hunderte Lichter zu erkennen, vermutlich Bildschirme. Sie alle waren in immergleichen Abständen voneinander entfernt, ein entspannendes Muster. Mittendrin, in der rechten Ecke des dritten Stockes, fehlte eines der blass scheinenden Quadrate. Zu lange und zu viele Minuten später erstarrte ich beim ganzen Leib. Das fehlende Stück, der verlorene Stein in der Mauer, das war ich. Der letzte Halt, das war meine Station gewesen. Meine einzige Hoffnung, das war die nächste Haltestelle, mindestens zehn Minuten vom Arbeitsplatz entfernt. Als der Wagon diesmal ruckartig abbremste, war ich vorbereitet, dennoch schoss ein stechender Schmerz in meine zuvor überstrapazierte Hüfte, Flüche entwichen mir, als gäbe es kein Morgen. Ich wartete geduldig, bis das Tram stillstand, um dann ebenso hektisch aufzuspringen. Kaum draussen, bereute ich, keinen Regenschirm mitgebracht zu haben. Nichtsdestotrotz bahnte ich meinen Weg durch die Menschenmasse, genauer gesagt durch den Wald aus deren Regenschirmen. Man könnte meinen, der Regen käme dort nicht hindurch, doch das Wasser findet immer sein Weg, man kann es nie ganz aufhalten, wenn man es kommen sieht, ist es schon zu spät. Ich beschleunigte immer mehr, die Beine liefen von allein, obwohl vollständig durchnässt. Als die gläserne, leuchtende Burg endlich näherkam, war der Himmel kaum mehr dunkel. Ein Grund weniger, den Rucksack vor mir zu übersehen. Ein Grund mehr, mir die Schuld zuzuweisen, als dieser, beziehungsweise das Kind, welches daran hing, einem miserabel gefalteten Papierflieger gleich in den Matsch flog. Und so behandelte ich es auch, einmal beim Fallen zuzusehen, war angenehm, aber ich liess es liegen. Ohne weiter zu zögern trugen mich meine Beine weiter, begleitet von immer noch schmerzenden Hüften. Das Bürogebäude veränderte sich nicht, als es näherkam, die Fenster glänzten, die Computer leuchteten, lediglich die Erscheinung wuchs. Die Eingangstür war ebenfalls aus Glas, es ermöglichte einen Blick auf den gelangweilten jungen Mann am Empfang, wie er aufblickte, sichtlich verwirrt, ich kam ja zu spät. Später wandelte sich sein Gesichtsausdruck, ein wenig ekel, gemischt mit müdem Desinteresse, als meine durchnässten Schuhe mehr Wasser als die sieben Weltmeere zusammen auf dem weiss glänzenden Boden hinterliessen. Ohne ein Wort mit dem von Bartwuchs verschonten Gesicht zu wechseln, stapfte ich in den Aufzug. Routiniert wählte meine Hand, ohne dass ich hinblicken musste, das dritte Stockwerk. Es ertönte keine klischeehafte Aufzugmusik, ein vernichtender Schlag gegen die Arbeitsmoral, wenn man mich fragte. Doch für meine Wenigkeit war das nicht nötig, sobald ich einen beliebigen Aufzug betrat, gruben sich zahlreiche Ohrwürmer aus der feuchten Erde meines Langzeitgedächtnisses. Die Fahrt dauerte kaum eine Minute, schon stand ich im gewohnten Umfeld, als wäre nichts geschehen. Das Büro, ordentlich, in allen Grautönen, vollgestopft mit Computern, seine Insassen, Männer und Frauen mittleren Alters, in Anzug gekleidet, so wie es die Etikette wollte, sie alle bemerkten mich nicht. Nur ein Blick traf mich. Im aus mittlerer Entfernung sass einen Mann, der wohl den Altersdurchschnitt mühelos um zehn Jahre hob. Er lächelte. Ich sah ihn kaum eine Sekunde, doch es genügte, um eine unheimliche Trockenheit in mir auszubreiten, es fühlte sich an, als würde mein Körper zu Staub zerfallen und auf den sandigen Boden rieseln, innert Sekunden wäre ich nicht von jedem anderen Quadratmeter der Wüste zu unterscheiden. Erneut machten sich meine imaginären Hände ans Werk, während ich mich hinsetzte. Der Drehstuhl quietschte. Wie konnte er nur anders, bei mindestens acht Stunden Belastung am Tag. Ein Versuch des arbeitnehmerfreundlichen Arbeitsplatzes, genauer gesagt eine grüne Pappwand, welche einst grau war, wie ich zumindest vermutete, verhinderte, dass ich weitere Blicke auf die seltsame Gestalt von Vorhin werfen konnte.  Ich suchte einige Sekunden nach dem Knopf, der mein Computer einschalten sollte, bis ich mein Vertrauen zum Tastsinn aufgab und mich mühsam zur Seite beugte, um unter den Tisch zu sehen. Eine schmerzhafte Entscheidung. Lautlos erschien das Windows-Symbol auf dem Bildschirm, das Mosaik der Glasburg war nun vollständig. Ungefähr zehn Minuten tippte ich Daten, entnommen aus einem Stapel von Dossiers zu meiner Linken, in eine Tabelle, bis sich die Aufzugstüren öffneten, und so meine Aufmerksamkeit erlangten. Dahinter erschien ein Geschöpf, welches Wassermassen gleich des Ganges hinter sich liess. Ich brauchte einige Momente, bis ich darin den Rucksack erkannte. Schweigend watschelte dieser direkt auf mich zu, doch bevor er meine Kabine erreichte, erklangen keine schmatzenden Schritte mehr. So leise wie es der Stuhl erlaubte, lugte ich um die Ecke. Dort stand das Kind, bei näherer Betrachtung ein Junge, vor einer Frau, die schockierter gar nicht erscheinen könnte. Mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund starrte sie auf das Kind, teilweise besorgt, teilweise angeekelt. Dann folgte eine Serie von Fragen. Was? Wie? Wo? Wann? Wer? Ich befürchtete schon, sie würde als nächstes nach der Existenz des freien Willens, allgemein nach dem Sinn des Lebens und des Universums fragen, doch sie beliess es bei den fünf Fragen. «Bin in den Matsch gefallen. Jemand ist in mich reingelaufen. Vor diesem Haus. Bin ja noch nass. Ich glaub der da» Die Antworten folgten ebenso schnell wie die Fragen. Als ich den letzten Satz hörte, drehte ich mich hastig zurück zum Bildschirm. Doch zu meinem Erstaunen folgten keine Konsequenzen. Die Mutter des Kindes war viel mehr damit beschäftigt, es irgendwie wieder in die Schule zu bringen. Also machte ich mich erneut an die Arbeit. Doch auch dieses Mal wurde mein «Workflow» unterbrochen. Der Kollege zu meiner Rechten deutete mir an, dass der Chef etwas mit mir zu besprechen hatte. Unbekümmert tapste ich durch die Wassermassen des Ganges, leider der schnellste Weg zum Ziel. Das Büro meines Arbeitgebers befand sich gleich neben dem Aufzug, diesmal trennten es blaue Trennwände vom Rest des Raumes. Darin sass Albert, dies war sein Nachname, gelassen wie immer. Etwas zurückgelehnt kratzte er sich am grau melierten Dreitagebart, miserabel rasiert. Die kurzen, ebenfalls gräulichen Haare hatten heute auch keine Pflege erfahren, ein reines Durcheinander. Mit einer lockeren Geste bat er mich, Platz zu nehmen. Inzwischen hatte ich gelernt, dass er immer das erste und letzte Wort hatte, also wartete ich geduldig, bis er sprach.

     «Morgen»

     «Guten Morgen», stammelte ich.

     «Haben sie das Kind gesehen?»

     «Ja, was ist mit dem passiert und weshalb ist es hier?»

     «Das wissen sie»

     «Sie werden mich wohl nicht gerufen haben, weil ich ein Kind angerempelt habe»

     «Da haben sie Recht, Wagner, darum geht es nicht. Sie sind zu spät gekommen»

Alberts Hand wanderte in Richtung Nase, stetig kratzend, während er mich ein wenig enttäuscht anblickte.

«Ich habe die Haltestelle verpasst, musste zurücklaufen. Aber wenigstens habe ich mich beeilt, das Kind müsste Beweis genug dafür sein»

Ob das eine ernste Bemerkung oder ein Witz war, ich wusste es selber nicht.

«Kein Platz für Witze Wagner. Sie sollten pünktlich kommen, das habe ich ihnen nun deutlich zu viele Male gesagt»

«Ja, das ist mir bewusst»

Die Nase schien genug gekratzt, trotzdem machte er weiter, sogar intensiver.

«Es ist immer schwierig, eine solche Botschaft mitzuteilen»

Sofort erstarrte ich, keine Faser meines Körpers rührte sich, sogar die Luft hielt ich an.

«Sie feuern mich?»

«Vielleicht… Wir verlagern einen grossen Teil dieses Sektors ins Ausland, ich glaube das heisst Outsourcing»

Dies machte seine schuldige Miene, die er jetzt schon seit Minuten zog, nachvollziehbar.

     «Was heisst denn da vielleicht? Entweder sie entlassen mich oder nicht!»

     «Jetzt tun sie nicht noch so, als wollten die Arbeit wirklich verlieren»

     «Ich will nur eine klare Aussage, ist mir lieber als wochenlang um die Stelle zu bangen!»

Ich wurde lauter, Albert passte sich an meiner Lautstärke an.

«Na gut, Wagner. Heute Nachmittag haben wir sowieso so gut wie nichts los, sie können nach dem Mittag gehen. Im Verlaufe des Tages erhalten sie eine Nachricht mit dem endgültigen Entscheid, Kündigungsfrist et cetera»

Wenn er so etwas sagte, war die Entlassung so gut wie sicher.

     «Viel Glück, Wagner»

Ich antwortete nicht, sondern schlurfte physisch und psychisch ermüdet aus dem Raum. Diese Arbeit, sie war langweilig, doch noch nie verging ein Vormittag im Büro schleppender als dieser. Die ganze Zeit tippte ich, doch keine Minute war ich voll dabei. Meine Finger wuselten auf der Tastatur herum, während mein Kopf andauernd überlegte, wie’s nun weiterging. Ganze zwei Stunden brauchte ich, um herauszufinden, dass ich wohl oder übel einen anderen Bürojob suchen musste, Anderes mit dem selben Gehalt gab meine Ausbildung nicht her. Währenddessen war der Rucksack schon längst verschwunden, in die Schule vermutete ich. Trotzdem zierten seine Interpretationen des Ganges in allen Brauntönen von Wasser sämtliche Gänge des Stockwerkes. Er schien sich einen Spaziergang genehmigt zu haben, bevor er gegangen war.

 

Meine Augen drohten zuzufallen, als die Uhr halb zwölf zeigte. Schlussendlich wurde ich durch das Gedränge meiner Arbeitskollegen aufgerüttelt, bei den meisten für eine Rauchpause. Viele assen auch auf der Arbeit, damit sie früher gehen konnten. Vor Schmerzen krächzend, stemmte ich mich aus dem Drehstuhl und packte meine sieben Sachen, was nicht viel war. Dann liess ich noch ein paar Kugelschreiber mitgehen, die konnte man immer gebrauchen. Fast alle meiner Mitarbeiter hatten den Raum schon verlassen, als ich zum Aufzug hinkte. Die Schmerzen in der Hüfte waren unerträglich, jede Minute wurden sie schlimmer. Wenigstens Stehen konnte ich noch, ohne dass ich halb kollabierte. Zu meinem Vorteil kam das nächste Tram erst in zehn Minuten, solange brauchte ich nämlich, um zur Haltestelle zu gelangen. Innerlich lachte ich in Anbetracht der bitteren Tatsache, dass ich mehr als die dreifache Distanz am selben Morgen in gleicher Zeit gerannt war. Das grünbraune Gefährt war nicht gerade leer, doch mein routinierter Blick eines Pendlers konnte immer wieder einen freien Sitzplatz entdecken, den ich dringend benötigte. Überall erschienen Gesichter, manche bleich, manche braun gebräunt, obwohl herbstlichem Wetter, rund, eckig, alles war vorhanden. Nacheinander musterte ich sie, versuchte ihre Emotionen zu lesen, wer war glücklich, wer traurig, weshalb war jener wütend, jener gelangweilt? Doch keiner der Leute ähnelte nur in kleinster Weise der Erscheinung vom Morgen. Solche Dinge fallen einem nicht auf, wenn man vor sich hin pendelt. Jeden Tag dieselbe Strecke, jeden Tag die gleiche Landschaft. Doch heute, war es anders. Es war mittags, um diese Zeit wäre ich auf der Arbeit, womöglich würde ich etwas essen. Doch heute fuhr ich nachhause, als die Sonne senkrecht stand und blickte den Leuten um mich herum in die Seele. Zumindest versuchte ich es. Noch nie erschien eine solche Simplizität so interessant, so faszinierend. Einfach dazusitzen und zu beobachten.

Obwohl mein Bewusstsein abgeschiedener nicht sein konnte, verpasste ich die Station St. Maria nicht. Am gläsernen Unterstand war immer noch ein wenig die Spuren des Regens erkennbar, darunter hob sich ein Rechteck Asphalt hervor, vom Regen verschont, ein wenig heller. Wie üblich um diese Zeit war ich der einzige, der ausstieg, es sass auch keiner da, auch niemand stieg ein. Direkt hinter der Haltestelle ragten zahlreiche Neubauten, lückenlos aneinandergereiht, in den bewölkten Himmel. Die Musse, die ich eher unfreiwillig betrieb, eröffnete mir auch auf diesem altbekannten Weg neue Horizonte. Die Fenster der mehrheitlich weiss gestrichenen Häusern standen verblüffend häufig offen, vermutlich der frischen Luft wegen. Die der unteren Etagen freuten mich am meisten, dort konnte man, falls es das Licht erlaubte, hineinspähen, und in das Leben anderer eintauchen. Weshalb hing hier wohl diese Lampe, wie alt war dort die Kuckucksuhr, wer wohnte in jenem Wohnzimmer? Dann kehrte auch Leben in die Strassen. Hinter mir ertönten Schritte, aber in kleinen Intervallen, Kinder, schätzte ich. Kichernd, lärmend rannten sie an mir vorbei, während sowohl sie als auch ich den Geruch von Gerichten einatmeten, die in diesem Moment angenehmer nicht sein konnten. Ich genoss es in vollen Zügen, es erinnerte mich an meine Kindheit, als wir durch lauter kleine Quartiere gingen und von überall Düfte zu uns strömten. Jedes Mal versuchte ich herauszufinden, welcher wohl aus meiner Wohnung kam, um ihn dann zu identifizieren und mit lauter Vorfreude die Tür aufzumachen. Dann hörte ich das Wasser brodeln, das Öl zischen. Der Schulrucksack war in Bruchteilen einer Sekunde abgelegt, eher abgeworfen. Die Küche befand sich gerade um die Ecke, also spähte ich durch die geöffnete Tür, dann entschied sich jeweils, ob sich meine Vorstellung des Mittagessens erfüllte.

 

Als ich die Gasse, die zu meinem Appartement führte, erreichte, waren die Düfte schon lange verflogen, schliesslich kochte niemand in meiner Wohnung. Das Gebäude strahlte, wie jedes andere auch, in weisser Farbe, zwei Stufen wiesen zur Eingangstür. Zwei äusserst schmerzhafte Stufen, doch es wurde nicht besser, erst einmal im Inneren, folgten dutzende. Die Schmerzen waren unerträglich, als hätte ich eine Kugel, nein, mehrere Kugeln erwischt. Stöhnend und krächzend kämpfte ich mich Tritt um Tritt hoch, auf halbem Weg nach oben musste ich eine Pause einlegen. Die Qualen pressten mir alle Luft aus der Brust, mein Mund war trocken, alles drehte sich. «Verdammte Scheisse!», schrie ich. Das ganze Treppenhaus schien vor Flüchen zu vibrieren. Durch eine kleine Luke, schräg geöffnet, strahlte grelles Licht herein und gab mir zu verstehen, dass der Weg bis hierhin so lange gedauert hatte, dass die Sonne nicht mehr senkrecht stand. Erschöpft liess ich meinen Blick durch die beschränkte Aussicht, welche mir das Fenster bot, schweifen. Nur ein Bruchteil einer Sekunde kam es mir vor, als würde mir, mehr als fünfzig Meter weit weg, jemand in die Augen blicken. Die Trockenheit im Rachenbereich breitete sich nun im ganzen Körper aus. Es war exakt das gleiche Gefühl, wie jenes während der Arbeit, doch diesmal vermischt mit zahlreichen anderen unangenehmen Effekten. Wie aus einer Starre erwacht zuckte ich zusammen und machte ich an den weiteren Aufstieg. Noch einmal fünf Minuten später stand ich in meiner Dreizimmerwohnung. Klein, aber fein, mehr brauchte ich nicht, ich hatte seit Jahren weder Beziehung noch Mitbewohner gehabt. Meine Schuhe, sportlich, aber neutral, verdreckten den roten Teppich, der schon seit Jahren im Wohnzimmer lag. So leid es mir tat, meine Hüfte erlaubte es nicht, sie auszuziehen. Auf dem halbhohen, weissen Schrank, ebenfalls im Wohnzimmer, stand das Telefon, ein verhältnismässig altes Modell. Die Tasten aus Kunststoff gaben lautes Piepsen von sich, als ich mit zitternden Fingern die Nummernbibliothek nach der meines Arztes durchsuchte. Als die Frau Sekretärin abnahm, hielt ich ihre Stimme zunächst für das Geräusch eines Tastendruckes auf ebendiesem Gerät.

«Praxis Dr. Jacobsen, was kann ich für sie tun?»

«Ich möchte einen Termin, so früh wie möglich»

«Da muss ich kurz nachschauen»

Fast eine Minute lang herrschte Schweigen.

 «Ich könnte ihnen einen Termin um fünfzehn Uhr bieten»

Die billige Uhr an der Wand gegenüber von mir zeigte dreizehn Uhr.

«Das passt, gerne»

«Name und Vorname?»

«Wagner Jonathan»

«Aha, genau. Sie sind schon länger Patient bei Dr. Jacobsen?»

«Ja, das stimmt»

«Gut, das haben wir. Schönen Tag Herr Wagner»

«Danke, ihnen auch»

Ich hing auf.

Ich konnte nie sonderlich gut kochen, doch diese Fehlgeburt von Gericht, die ich an diesem Mittag zubereitete, war mehr als scheusslich. Tomatenspagetti, kaum wiederzuerkennen. Die Sauce hatte die Kochzeit von einer halben Stunde mehr als überschritten und die Teigwaren besassen die Konsistenz von Kartoffelbrei. Trotzdem ass ich alles, so etwas konnte ich schliesslich dem Mülleimer, beziehungsweise dem Abfluss nicht antun. Die Erkenntnis: Schlechtes Essen hilft nicht bei Übelkeit, es wirkt sogar fördernd. Wer hätte das gedacht. Das Kabelfernsehen gab nichts her, vielleicht gerade deswegen sass ich eine Stunde vor der Kiste. Die ganze Zeit über führte meine Wenigkeit eine wissenschaftliche Studie durch. «Die empirische Analyse der vorteilhaftesten Sitz/Liegeposition bei Hüftbeschwerden» nannte ich sie. Anders ausgedrückt drehte und wendete ich mich, bis die Schmerzen einigermassen ertragbar waren. Umso schlimmer wirkte sich dies dann auf das Aufstehen aus, als ich einige Snacks holen wollte. Die Entscheidung dafür war äusserst umstritten, doch ich konnte nicht ohne. Also hinkte ich in die Küche, die keinesfalls geräumig war, wobei dies in meiner Situation von Vorteil war, die Einrichtung bat geländerartige Haltmöglichkeiten in Massen. Dachte ich zumindest. Meine linke Hand tastete in einem erhöhten Kasten, als ich die Position meiner rechten Hand nur minimal verändern wollte. Dies sollte durch leichtes Anheben und Verschieben geschehen, Ersteres klappte auch, doch als die zweite Aktion von statten ging, verschwand der Untergrund zu meiner rechten. Ich hatte nicht bemerkt, dass die Ablagefläche hier endete, so stürzte ich mit voller Wucht auf den glatten Küchenboden. Ein Schrei, der das grösste Prachtexemplar von Tyrannosaurus Rex neidisch machen würde, hallte durch den ganzen Block. Im Fallen riss ich zudem noch einiges an Geschirr und sonstigen Utensilien mit mir, welche überall verstreut im kleinen Raum lagen, den Abwasch hatte ich schliesslich noch nicht erledigt. Zufälligerweise war dies nicht der einzige Vorfall dieser Art in den letzten Monaten, laut meinen Nachbaren beherrschte ich die Kunst des «künstlichen Klimax des Dezibelwertes» wie kein Zweiter. Es überraschte mich daher nicht, dass mein Vermieter fünf Minuten später auf mich herabblickte. Horst, sein Nachname hatte ich vergessen, war kein schön anzusehender Mann. Er bevorzugte es, zu jeder Jahreszeit mit verdreckten, ehemals weissen, und definitiv zu kleinen Unterhemden herumzulaufen. Meine derzeitige Perspektive bot ein Panorama bestehend aus haarigem Doppelkinn gepaart mit heraushängendem Bierbauch auf und unter der sogenannten «Gürtellinie». In diesem Beispiel rein zur Orientierung gebräuchlich. Sofort setzte ich eine möglichst seriöse Mine auf, und sagte mit kratziger Stimme:

«Morgen»

«WAGNER!»

Solch ein Tonfall kannte ich von ihm nicht, ehrlich.

«Gibt’s ein Problem?»

«Erstens: Es ist halb drei. Zweitens: Das hier!»

«Was hier?»

Horsts Doppelkinn färbte sich rot, ähnlich der Farbe, die meine Sauce heute Mittag zumindest hätte annehmen sollen.

«SIE WISSEN WAS DAS IST!»

«Ich mach’s mir eben in meiner Küche bequem»

«Falsch, das hier war nie ihre Küche und glauben sie mir, dass wird sie definitiv ab heute nicht mehr sein!»

«Oh tut mir leid, da habe ich mich versprochen»

«DAS HIER IST NICHT MEHR IHRE WOHNUNG SIE DEPP!»

«Kündigung?»

Er antwortete nicht, sondern verliess «meine» Wohnung mit lauten Schritten und einer laut zugeknallten Tür. Halb drei! Ich musste mich langsam auf den Weg zum Arzt machen, um den Rest konnte ich mich immer noch später kümmern. Eigentlich lag die Praxis von Dr. Jacobsen gleich nebenan, zu Fuss fünf Minuten entfernt, doch in meiner Situation brauchte ich wohl oder übel das Vierfache.

Die Räumlichkeiten des Arztes waren nicht besonders beeindruckend. Der Eingang konnte unauffälliger nicht sein, es war eine Tür aus dunklem Holz in einem überwucherten Innenhof. Danach: Treppen, definitiv zu viele. Im Stillen verfluchte ich die Entscheidung Jacobsens, die Räumlichkeiten im vierten Stock zu benutzen. Ausser Atem betätigte ich die Klingel auf Anweisung der Aufschrift über ihr und trat ein. Das Wartezimmer war leer, jedoch befand sich jemand im Sprechzimmer. Die Auswahl der Zeitschriften war im Grunde bei jedem Arzt dieselbe, ich schnappte mir ein Heft, dessen Titelblatt eine utopische Inneneinrichtung zierte, «schöner Wohnen», hiess es. Desinteressiert blätterte ich durch die Artikel, die Bilder waren wenigstens schön anzusehen, aber mit den Texten versuchte ich es gar nicht erst. Jedoch wurde die Lesestunde zu meinem Vergnügen nach nicht einmal fünf Minuten unterbrochen, als jemand die Klinke gegenüber von mir herunterdrückte, als hätte der Betätigende gerade einen Anfall. Als dieser dann aus dem Türrahmen hervortrat, erwog ich diese Theorie als ziemlich wahrscheinlich. Ein kaum lebendiges Geschöpf war es, die Extremitäten dünner als Zweige, die Falten im Gesicht tiefer als der Mariannengraben. Trotz des Aussehens eines Toten schien sich der Rentner zu amüsieren. Mein Inneres verwandelte sich abermals in eine Wüste, die Wüste Gobi im Winter genauer gesagt, denn eine unangenehme Kälte durchfuhr mich, als mir klar wurde, dass mein Zustand nicht weit von dem der Gestalt vor mir entfernt war. Der Senior kam kaum vom Fleck, als er quer durch das Zimmer schlurfte. Dahinter stand Dr. Jacobsen, ein grossgewachsener Mann mittleren Alters, seine Halbglatze glänzte im Licht der steril weissen Beleuchtung. «Kommen sie herein, Herr Wagner», sagte er, ich folgte. Das Sprechzimmer strahlte in natürlichem Licht, die hintere Wand bestand vollständig aus Fenstern. Davor stand ein Schreibtisch, simpel gehalten, ordentlich, in Weiss. Der Schemel, auf dem ich Platz nahm, bat nicht sonderlich viel Komfort im Gegensatz zum Bürostuhl, auf den sich der Doktor setzte.

«Erzählen sie mir von ihren Beschwerden»

Er sprach nicht perfektes Deutsch, es war ein wenig schwedischer Akzent zu hören.

«Heute Morgen bin ich im Tram gestürzt, genauer gesagt gegen eine Stange geprallt, und seitdem habe ich immer stärker werdende Schmerzen in der Hüfte»

«Aha, würden sie einmal ihr Oberteil hochziehen?», fragte der Schwede. Daran hatte ich gar nicht gedacht, nicht ein einziges Mal hatte ich meine Hüfte angeschaut. Doch der entblösste Körper zeigte ausser einer leichten bläulichen Verfärbung und einer ebenfalls leichten Schwellung keine Symptome. Vorsichtig drückte Dr. Jacobsen auf diese Stelle. Ich reagierte, als hätte er anstelle seines Fingers ein Messer benutzt. Der Doktor wich sofort zurück, und seufzte.

«Wie stark sind die Schmerzen?»

«Ich kann fast nicht mehr gehen, sonst breche ich zusammen»

Der Seufzer wurde stärker.

«Ich fürchte, sie haben sich etwas gebrochen. Der Fakt, dass sie auch noch den ganzen Tag damit herumgelaufen sind, macht’s nicht besser»

«Und was kann ich dagegen tun?»

«Ich müsste sie zuerst einmal röntgen, damit ich genauer feststellen kann, welcher Knochen gebrochen ist»

«Jetzt?»

«Heute nicht, in ein paar Tagen sollten sie wiederkommen. Sie müssen bis dahin Belastung vermeiden, am besten bleiben sie im Bett»

«Sagen sie, geht Bettruhe auch ohne Bett?»

Wie erwartet folge deutliche Verwunderung auf Seiten des Schwedens.

«Was soll das denn heissen?»

Vielleicht sollte ich mein Arzt nicht mit privaten Problemen konfrontieren, dachte ich.

«Ach was, nur ein Witz»

«Sie sind kein besonders witziger Mensch, Wagner»

Er verschrieb mir Schmerzmittel, das übliche eben, bis ich Röntgen und dann irgendwann operieren konnte.

Der Heimweg war eine Tortur, eine halbe Stunde lange betete ich, obwohl noch nie religiös, dass die Qualen endlich aufhörten. Darauf folgten erneut Treppenstufen, die Schmerzen wurden immer stärker, alle paar Schritte musste ich stehenbleiben, da mir schwarz vor Augen wurde. Als das Schloss der Wohnung mit lautem Klacken aufsprang, war ich am Ende meiner Kräfte. Das Sofa ächzte unter meiner Last, erschöpft wie ich war, kam ich nicht weiter als das. Das Wohnzimmer befand sich im Dunkeln, genauso wie die restlichen Räume, der Lichtschalter war schlicht und einfach zu weit entfernt. Stundenlang lag ich nur da, schaute kein Fernsehen, obwohl der Fernbedienung in Griffweite, bewegte mich nicht. Das einzige interessante war die Decke, welche sich langsam verfärbte, als die Sonne unterging. Es herrschte Totenstille, mein Atem war so langsam, dass er ebenfalls in der Geräuschlosigkeit versank. Alle Fenster waren verschlossen, ausser eines. Ich hatte es wohl vergessen, das Fenster, beziehungsweise die gläserne Türe zum Balkon. Die winzige Menge an Platz, die dieser bat, wurde weder von mir noch von sonst jemandem genutzt, daher schenkte ich der Einrichtung auch keinerlei Aufmerksamkeit. Ich hatte lediglich zwei Stühle und ein kleiner, runder Tisch hinausgestellt, als ich eingezogen war. Die Aussenmöbel waren gerade so schmal, dass man mit leichtem zwängen und drücken auch daran vorbeikam. Besucher bewunderten jedes Mal die Aussicht, die meine Lage bat, für mich war sie kaum spektakulär, was sollte man auch mit einem Blick auf immergleiche, niedrige Häuserdächer anfangen. Wenn es mir trotzdem danach war, konnte ich diesen «Luxus» auf vom inneren des Appartements geniessen. Der Abend war kühl, eisige Luft wehte mir um die Füsse, welche zur offenen Tür zeigten. Da musst du jetzt durch, dachte ich mir und machte mich daran, aufzustehen. Sofort manifestierte sich der zuvor allgegenwärtige Schmerz, ich schrie auf, wie ein verwundetes Tier, was ich ja im Grunde genommen war. Schleppend langsam manövrierte ich auf dem kürzesten Weg zum Balkon, welcher einer Durchquerung eines offenen Vulkankraters glich. Alles brannte, meine Hüfte, mein Kopf, meine Haut, mein Geist. Als ich endlich die Klinke zu greifen bekam, befand sich mein Puls im dreistelligen Bereich. Keuchen, Husten, das alles nützte nichts gegen die unerträglichen Qualen, im Gegenteil, sie machten sie nur noch schlimmer. Langsam kam ich wieder zu Kräften und vollbrachte es, den Kopf zu heben. Dann kam die Wüste.

Er war da, direkt vor mir, er sass auf dem Stuhl hinter dem verrosteten Tisch. In seinen Händen, ein Blatt Papier, ein Brief. Neben dem Greis lag das Couvert. Wo zuvor Hektik und Notzustand in meinem Körper war, bewegte sich nun keine Faser. Der Mann schien mich nicht zu bemerken, bis mir ein sanfter Luftstoss entwich. Langsam blickte er auf, seine Augen lagen völlig im Dunkeln, so tief lagen sie in den Augenhöhlen. So alt wie er aussah, ich konnte kein Zittern oder sonstige Zeichen von Schwäche erkennen.

«Morgen»

Seine Stimme verfestigte meine Starre, sie klang, als ob sie von den tiefsten Tiefen des Ozeans kamen, als ob ein Stein, als ob ein Berg zu mir sprach. Ich war zu geschockt, um zu antworten.

«Du siehst erschöpft aus, setz dich doch»

Wie hypnotisiert folgte ich der Bitte. Allein sein Anblick liess die Schmerzen in dunkle Schluchten fallen, sie verschwanden nicht, doch ihr Klang wurde stetig dumpfer. Zitternd zog ich den Klappstuhl ein wenig zurück und liess mich darauf nieder.

«Ein schöner Tag nicht wahr?»

«Ja… in Bezug auf das Wetter… definitiv»

Mein Gegenüber blickte nun vollständig auf, der Brief lag neben dem Couvert, es war meine Kündigung. Interessant, wie es mich zu diesem Zeitpunkt kein bisschen kümmerte.

«Ich habe dein Leid gesehen»

«Ich weiss»

«Und nicht nur das, ich habe es gefühlt, als wäre es meines.»

«Wer sind sie?»

«Ich trug einst den Namen Linus, ich mochte ihn nie»

In der Trance, in der ich mich befand, hinterfragte ich gar nicht, warum er von der Vergangenheit sprach.

«Wie… sind sie hierhergekommen?»

«Das ist nicht wichtig»

«Warum sind sie überhaupt hier, warum verfolgen sie mich schon den ganzen Tag?»

Der Greis lachte kurz auf, er klang wie eine donnernde Lawine.

«Das hier ist dein letzter Tag. Deshalb begleite ich dich»

«Sie meinen… ich werde sterben?»

«Ja, darauf habe ich dich vorbereitet, Schritt für Schritt»

«Das heisst, sie liessen das Tram anhalten?»

Er nickte.

«Sie liessen mich feuern?»

Meine Stimme wurde immer lauter.

«Sie steuerten das Kind?»

Die Lawine hallte an der dreckigen Betonwand wieder.

«Oh nein, das Kind, das war ich nicht. Das war ein überraschender Nebeneffekt»

Das Blut schoss mir in den Kopf, diesmal aber vor Wut.

«SIE HABEN MEIN LEBEN RUINIERT?»

Er schwieg, liess mich austoben, ihn anschreien, auf die Tischplatte schlagen. Und er schaute mir in die Augen, weit hinter seiner Visage erschein eine Spiegelung, wie ich tobte, genauer gesagt ein zappelnder Fleck. Auf Linus’ Gesicht erschien ein sanftes Lächeln, als ich zur Ruhe kam, als hätte er es erwartet.

«Ihr enttäuscht mich kein einziges Mal. Niemanden fällt auf, wie wichtig ihm diese Dinge sind, bis er sie verliert. Ich habe das selbe erlebt. Auch ich habe alles verloren, auch ich sah dabei zu, als würde ich danebenstehen. Und am Ende, tat ich das wirklich, physisch. Meine Leiche lag da, leblos, ich daneben. Damals, im Spital, meine Familie, Frau und Kinder, sassen weinend daneben. Ich schrie, tobte, doch sie bemerkten mich nicht. Doch weisst du was, Jonathan? Ich verlor alles, was ich je hatte, in Sekunden. Niemand bereitete mich vor, nahm es mir, Schritt für Schritt. Ohne, dass es mir jemand sagen musste machte ich mich auf den Weg. Und tat das, was niemand sonst übernehmen wollte»

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.

«Schon hunderten von Menschen sah ich beim Sterben zu, glaub mir, sie alle wären so oder so von uns gegangen, ich konnte es sehen. Die meisten davon wollten nicht warten. Immer wollen sie ihren Familien anrufen, um ihnen zu sagen, dass sie sie lieben. Aber doch war es zu viel verlangt, einmal in der Woche die eigenen Eltern zu besuchen, oder ihnen wenigstens anzurufen. Nie gaben sie etwas zurück, nie verziehen sie. Doch im letzten Moment, wo alles verloren und die Chance vergeben war, bereuten sie. Allesamt schlitzen sich danach die Pulsadern auf, oder erhängen sich, obwohl der einzige Grund der Zuneigung gegenüber den Todgeweihten deren eigentliche Existenz ist»

Ich blickte zurück, auf mein Leben, auf meinen Werdegang und ich sah, ich fühlte, dass dies die richtige Entscheidung war.

«Wissen sie was? Ich habe keinen letzten Wunsch. Kein letztes Mahl, kein Telefonat. Ich habe schon den Fehler gemacht, nicht zu sehen, wie glücklich ich mich schätzen konnte, als alles noch in Ordnung war, als die Welt mir Glück schenkte. Deshalb werde ich nicht noch einen Fehler begehen. Meine Beziehungen hielten nie lange. Zu meiner Familie hatte ich schon so lange kein Kontakt mehr, was bringt es mir, ihnen anzurufen, um zu sagen, dass ich sterben werde»

 

Die Sonne hatte sich vollständig hinter dem Horizont verborgen. Kein Quietschen entwich der hölzernen Tür, als er ging. Keine Schritte erklangen im Treppenhaus, als der Exitus das Haus verliess. Und keiner weinte, als Jonathan Wagner starb.

 

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