Vertrauen

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Starlight
Veröffentlicht: 29.09.2018 14:18
Aktualisiert: 29.09.2018 14:21
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Kurzbeschrieb:
Ich bin allein. Stehe hinter der Bühne. Weiss, dass mein Auftritt unmittelbar bevorsteht. Und weiss, dass ich es nicht schaffen werde.

Text

Vertrauen

 

 

Ich spüre, wie meine Beine zu zittern beginnen. Mein Herz klopft laut in meiner Brust und ich beuge mich nervös zu meiner Tasche runter. Langsam öffne ich den Reissverschluss und ziehe die Notenblätter raus. Dann werfe ich erneut einen Blick auf die grosse Uhr hinter der Bühne. 13.05. Noch exakt zehn Minuten. Ich schlucke und umklammere den Gitarrenhals mit festem Griff. Wie soll ich das nur schaffen?

Mein Blick schweift umher und bleibt an den anderen Teilnehmern hängen. Mädchen, Jungs, klein, gross. Alle sind heute gekommen. Sie stehen in Gruppen zusammen, lachen, reden oder stimmen sich auf den Auftritt ein. Eltern umarmen ihre Kinder, Geschwister wünschen viel Glück, Verwandte geben letzte Ratschläge auf den Weg und Freunde stehen nahe bei ihnen, damit sie nicht alleine sein müssen.

Ich blicke auf meine Füsse. Meine Gedanken schweifen ab.

Ich stelle mir vor, wie schön es wäre, wenn ich jetzt auch jemanden hätte, der hier wäre. Mir helfen würde. Jemanden, der mir versichern würde, dass schon alles gut kommt und ich den Auftritt erfolgreich hinter mich bringen werde. 

13.10. Noch fünf Minuten. Ich stehe wieder auf und beginne umherzugehen. Der Boden ist gefliest. Ein Schritt, ein Plättchen. Ich schaffe das nicht. Noch ein Schritt, noch ein Plättchen. Ich schaffe das. Schritt. Ich schaffe das nicht. Schritt. Ich schaffe das.

In diesem Moment bewegt sich der Vorhang der Bühne und eine junge Frau streckt den Kopf hindurch. Sie wirft einen Blick auf ihr Klemmbrett, liest einen Namen vor und schaut sich dann suchend um. Ich blicke auf.

Ich. Das bin ich. Es ist soweit.

Vorsichtig greife ich nach der Gitarre und den Noten und laufe dann in Richtung der Bühne. Ich spüre die Blicke der anderen im Rücken und starre auf den Boden. Das Blut pocht mir in den Schläfen und ich nehme alles wie durch Watte wahr. Schritt. Und Schritt. Immer weiter.

Dann ist da die Treppe. Holz. Die zweite Stufe knarrt, als ich drauftrete. Noch drei Schritte und dann bin ich oben. Bei der Bühne, bei den Leuten, bei meinem Auftritt.

Ich spüre, wie sich alles in mir verkrampft. Nein. Nein. Ich kann das nicht. Ich kann es einfach nicht.

Ich stoppe, halte an. Die Frau wirft mir einen verwirrten Blick zu, macht mir ein Zeichen, weiterzugehen. Ich weiche ihr aus. Stolpere rückwärts. Die Treppe wieder runter. Ich merke, wie mir Tränen in die Augen schiessen. Tränen der Enttäuschung. Ich habe versagt. Wieder mal.

Mit einem Ruck drehe ich mich um und laufe los. Weg von der Bühne, den Leuten, dem Auftritt. Weg von allem.

Ich schaue kein einziges Mal auf und bemerke den Mann erst, als ich fast in ihn hineinpralle. Er trägt einen grünen Kaschmirpullover. In der Mitte ein weisser Streifen, oben links das unverkennbare Logo. Auch der braune Fleck ist noch da. Kakao. Verschüttet an einem kühlen Wintermorgen in Norwegen. Langsam blicke ich zu ihm hoch. Und muss lächeln. Und gleich darauf wieder weinen. Das kann doch nicht sein. Warum ist er hier?

„Papa?“ Meine Stimme klingt zittrig und leise. Er legt seine Arme um mich. „Ja“, antwortet er und blickt mir fest in die Augen.

„Aber...was tust du hier? Ko...Kommst du nicht erst in zwei Wochen zurück?“

Er lächelt. „So war es geplant, ja. Aber ich wollte deinen Auftritt auf gar keinen Fall verpassen. Deshalb habe ich heute Morgen den erstbesten Flieger genommen.“

„Ab...Aber warum? Du hast dich doch so sehr gefreut. Was ist mit der Forschung? Den Kunden? Sind sie dir nicht wichtig?“

„Natürlich“, erwidert Papa und drückt mir die Gitarre zurück in die Hand. Verwirrt klammere ich meine Finger darum.

„Aber was tust du denn dann hier?“, frage ich.

Papa lächelt noch breiter.

„Du bist das Wichtigste für mich. Jederzeit und immer“, antwortet er.

Meine Augen weiten sich überrascht.

„Und deshalb geh jetzt. Geh und spiel. Spiel so, wie du es noch nie getan hast.“

Ich wische mir die Tränen ab und schaue meinem Vater in die Augen.

„Aber was ist wenn...“

„Schhh“, macht Papa und greift nach meinen Händen. „Ich bin stolz auf dich“, sagt er.

Ich atme tief durch und greife nach den Notenblättern, die er mir ebenfalls hinhält.

„Zeig ihnen, was du drauf hast“, fügt Papa hinzu und rückt mir die Jacke zurecht. „Ich weiss, dass du das schaffst.“

Ich nicke langsam. Plötzlich spüre ich, wie sich in mir eine Stärke entfaltet. Papa hat Recht. Ich kann das schaffen. Ich werde es schaffen. 

Schnell umarme ich meinen Vater.

„Danke“, flüstere ich leise in sein Ohr. Er lässt mich sanft los und weist mit dem Kopf Richtung Bühne. Ich atme tief durch, werfe Papa einen letzten Blick zu und gehe dann erneut los.

Schritt. Und Schritt. Immer weiter.

Dann ist da die Treppe. Holz. Die zweite Stufe knarrt, als ich drauftrete. Noch drei Schritte und dann bin ich oben. Bei der Bühne, bei den Leuten, bei meinem Auftritt.

Und dieses Mal spüre ich, wie sich alles in mir löst.

Ich weiss es.

Ich kann das.

Mit einem Lächeln auf den Lippen trete ich durch den Vorhang und in das helle Bühnenlicht hinaus.

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