24 Stunden (Teil 3)

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Cyrill.P.Kerry
Veröffentlicht: 19.09.2018 18:00
Aktualisiert: 19.09.2018 18:00
Kategorie: Dies & Das
Tags: zeit, Leben
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Kurzbeschrieb:
So, endlich ist der dritte und letzte Teil meiner letzten Geschichte fertig. Hiermit wünsche ich euch eine schöne Zeit und weiterhin viel Erfolg beim Schreiben!

Text

Mit beiden Händen stützte ich mich auf dem Küchentisch ab. Das Blut rann über das Tuch, welches darüber gespannt war. 24 Stunden hatte ich noch zu leben. Als hätte ich nicht schon genug Probleme gehabt. Ich stand da und überlegte kurz, was meine nächste Handlung hätte sein können. Sollte ich dem Gefasel dieses Mannes überhaupt trauen? Sollte ich ihm glauben? Ich wusste, dass es eigentlich besser so gewesen wäre. Noch bevor ich mich zu irgendetwas entscheiden konnte, kam Martina in die Küche hereingestürmt. Sie sah das Blut, welches sich auf dem Tischtuch ausweitete und auf den Boden tropfte. Ich sah ihren Gesichtsausruck. Eine Mischung aus Endtäuschung, Wut und Trauer machte sich auf ihrem Gesicht breit und liess es rot aufleuchten. Ich kannte dieses Gesicht. Wenn ich am Vorabend mal wieder zu viel getrunken hatte und auf dem Heimweg in unser Haus etwas kaputt gemacht habe oder meinen Mageninhalt an einem Ort platzierte, für den er eigentlich nicht gedacht gewesen wäre, sah sie genau so aus. Ich wollte gerade meinen Mund öffnen, um die Umstände zu erklären, doch sie kam mir zuvor. Sie brüllte mich an, fragte mich, was der Unsinn sollte und ob ich jetzt völlig übergeschnappt wäre. In voller Lautstärke schrie sie um sich, liess alles raus. Mit Handzeichen versuchte ich sie irgendwie zu beruhigen. Ich wollte nicht, dass die Kinder deswegen erwachten. Doch da überlegte ich mir etwas. Hatte ich es wirklich verdient, so behandelt, so angeschrien zu werden? Hatte ich es wirklich verdient, auch wenn ich nicht einmal etwas dafürkonnte?

Ich holte tief Luft und gab ihr alles zurück, was sie mir an den Kopf warf. Im ersten Augenblick erschrak ich wegen des plötzlichen Verlaufs des Gesprächs. Ich war noch nie so wütend wie zu diesem Zeitpunkt. All die Jahre, in denen ich mich anschrien liess, fertig gemacht wurde und mich nie richtig wehren konnte, kamen nun hervor. All die Vorwürfe, die ich mir von meiner Frau anhören musste, ein Betrug nach dem anderen, welchen sie mir angetan hat. Mit jedem Wort wurde ich lauter. Durch dieses Herumbrüllen fühlte ich auf einmal etwas. Wie ein Kribbeln strahlte es in meinen Körper aus, floss durch meine Adern und löste in mir eine Art Befriedigung aus. Es war das Gefühl von Kontrolle und Macht. Ich fühlte, wie sich der ganze Ballast, der sich innerhalb der letzten Jahre in mir aufgebaut hat, mit jedem Wort auflöste. Martinas Miene verwandelte sich schnell von einer wütenden zu einer verängstigten. Tränen bildeten sich in ihren Augen, welche sie noch mehr aufglitzern liessen. Früher hätte ich mich beim Anblick ihrer Augen sofort bei ihr entschuldigt, ihr gesagt, wie leid es mir tat. Doch nicht heute. Ich verspürte keinerlei Reue gegenüber meiner Tat, im Gegenteil.

Als ich nach geraumer Zeit fertig war, meine Frau anzuschreien, lief diese schluchzend aus der Küche. Meine beiden Kinder waren durch den Krach, den wir verursachten, aufgewacht und standen nun mit halbschlafenden und verwirrten Blicken vor mir. Ich gab ihnen keine Antwort auf die fragenden Gesichter. Als nächstes beschloss ich, zum Scheidungsamt zu fahren und die Scheidung einzureichen. Ich kümmerte mich nicht um meine Gefühle, denn wenn ich das getan hätte, hätte ich diese Entscheidung nie durchgezogen. Innerlich zerriss es mir das Herz, Martina verlassen zu müssen.

Mit dem letzten Geld, welches ich noch besass, holte ich mir einen guten Anwalt, welcher nach meinem Tod, nach diesen 24 Stunden, dafür sorgen sollte, dass das Sorgerecht für die Kinder nicht an meine Frau fiel. Zu diesem Zweck besuchte ich meinen Vater. Auch mit ihm führte ich eine lange Diskussion über unsere Vergangenheit und die Geschehnisse, die seither immer noch zwischen uns lagen. Ich hielt ihm all die Momente vor, in denen er mich im Stich gelassen hatte, mitten im nirgendwo abgesetzt oder bei jeder Frage nach ein wenig Hilfe und Unterstützung abgelehnt hatte. Ich erinnerte ihn an den Moment, als meine Mutter starb und er mich beinahe in ein Kinderheim gesteckt hätte. An all die Ereignisse, an all die Schläge und Tritte, die ich einstecken musste, erinnerte ich ihn. Mitten ins Gesicht habe ich ihm gesagt, welch ein miserabler Vater er war. «Als Gegenleistung für all die schrecklichen Jahre,» so fuhr ich fort, «wirst du nach meinem Tod auf meine Kinder achtgeben und sie erziehen.» Nachdem ich diese Dinge erledigt hatte, fuhr ich zu meinem Arbeitgeber und schmiss meinen miserabel bezahlten Job hin.

Nun sitze ich da, mit meinem Auto geparkt auf einem Hügel, von dem ich die ganze Nachbarschaft beobachten kann. Die Sonne hat sich bereits orange gefärbt und neigt sich langsam Westen zu. Den Sitz habe ich zurückgelegt und meine Füsse auf dem Lenkrad platziert, damit ich einen grandiosen Blick auf die Hügel der Landschaft habe, welche immer mehr in die goldene Farbe des Sonnenunterganges getaucht wurden. Ich geniesse die Strahlen, die durch die Frontscheibe auf mein Gesicht fallen und merke, dass das Leben doch noch schöne Seiten haben kann. Dann schaute ich auf meine Uhr. Es war bereits sieben Uhr abends. Viel Zeit blieb mir nicht mehr. Dennoch war ich glücklicher, wie nie zuvor.

Ich beschliesse, eine Flasche Wein aus dem Kofferraum zu holen. Fahren würde ich an diesem Abend so oder so nicht mehr. Ich mache es mir erneut in meinem Auto bequem und schenke mir ein Glas ein. Vor noch einer Woche hätte ich direkt zwei, drei Gläser nacheinander weggekippt. Doch heute geniesse ich die perlende, rote Flüssigkeit in kleinen Nippen, so schmeckt er schliesslich noch viel besser. Ich sehe zu, wie die Strassen immer leerer werden und die Nacht langsam hereinbricht. Beschliessend, meine Augen für ein paar Stunden zu schliessen, lehne ich mich zurück und schlafe friedlich ein.

Mit einem grossen Schreck wache ich auf. Ein ungutes Gefühl steigt in mir hoch. In den Rückspiegeln erkenne ich die aufgehende Sonne, deren Strahlen mich in den Spiegeln blenden. Irgendetwas war doch heute? Verschlafen schaute ich auf meine Uhr. Es war 08:25 Uhr. Nun fiel es mir wieder ein. Mir blieben noch fünf Minuten zu leben. Stolz auf mich, wie ich mein Leben innerhalb dieser 24 Stunden umgekrempelt habe, blicke auf einzelne Momente zurück. An die Momente, in denen ich in der Kindheit von meinem Vater und meinem Bruder fertiggemacht wurde, an den Moment, als meine Mutter starb, der einzige Mensch, dem ich zu diesem Zeitpunkt noch vertraute. Auch erinnerte ich mich an den Moment, an dem mich Martina mit einem meiner engsten Freunde hinterging. Ich liess das alles über mich ergehen, bis auf den heutigen Tag. Ich lächle und schaue erneut auf meine Uhr. Es ist bereits 08:27. Ich habe keine Angst zu gehen, ich bin ganz zufrieden, mein Leben auf diese Weise abschliessen zu können. Hingegen frage ich mich, wie es passieren wird. Wird es schnell gehen? Wird es wehtun? Wer wird es tun? Wird dieser Mann kommen mir ein Messer in den Bauch jagen? Ich weiss es nicht und will es auch gar nicht wissen.

08:28, ich denke an meine zwei Kinder und an den schönsten Moment in meinem Leben, als sie zur Welt kamen.

08:29, ich denke an verpasste Chancen und Möglichkeiten, mit denen ich heute sehr wahrscheinlich nicht auf den Tod wartend in meinem Auto sitzen würde.

08:30, ich sitze da in meinem Auto, bereit, dem Schöpfer gegenüber zu treten. Doch es tut sich nichts. Ich schliesse die Augen, in der Hoffnung, es würde schnell passieren.

08:31, immer noch passiert nichts. Vorsichtig wage ich einen Blick aus dem Fenster. Niemand oder etwas befindet sich ausserhalb meines Autos. Habe ich mich etwa verrechnet? Je mehr Zeit vergeht, desto heisser wird mir. Mein Herz rast mit jedem Gedanken, den ich mir zur Situation mache. Was ist los? Wieso passiert nichts? Ich nehme die Beine vom Lenkrad und klammere mich mit beiden Händen daran. Ich versuche, mich zu beruhigen. Irgendetwas lief hier nicht so, wie es hätte laufen sollen. Versuchend, nicht den Verstand zu verlieren, reisse ich die Autotür auf und steige hinaus. Kühle Herbstluft schlägt mir entgegen. Immer noch nichts. Keine Menschenseele befindet sich auf dem Parkplatz, ich bin komplett allein. Zehn weitere Minuten vergehen, während ich auf dem Parkplatz herumstehe und versuche, mir das alles zu erklären.

Während ich die von den Bäumen herabfallenden Blätter beobachte, dämmert es mir. Ich würde nicht sterben, jedenfalls nicht heute. Voller neuer Lebensfreude begab ich mich zurück zum Auto, steige hinein und zünde den Motor. Ich lächele wie noch nie zuvor in meinem Leben. Denn ich weiss jetzt, dass mein Leben von diesem Zeitpunkt an richtig beginnen kann.

Kommentare

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Am 21.09.2018, V.A.L.I__22
Hey Cyrill
Ich finde die Geschichte sehr spannend und interessant. Die Idee mit den 24 Stunden gefällt mir sehr gut. :)
Lg Vali