Äste gen Himmel

Cover
Leralya
Veröffentlicht: 20.11.2017 22:06
Aktualisiert: 20.11.2017 22:06
Kategorie: Lyrik/Songtexte
Tags: baum, Leben
Bewertung:
Deine Stimme wird abgegeben.
Bewertung: 4.3 von 5. 3 Stimme(n).
Klicke auf die Sterne, um den Text zu bewerten.
Kurzbeschrieb:
Im Rahmen eines grösseren Projekts entstanden, das bald mal 20'000 Wörter umfasst und ich den Kernplot noch nicht wirklich begonnen habe.

Text

In all seiner Pracht erscheint er im Frühling und Sommer, wenn er die saftigen Blätter trägt und Schutz vor der Sonne bietet. Im Herbst leuchtet er in allen Farben auf, es ist Magie, das Werk eines begabten Künstlers.
Doch dann im Winter, wenn er trist seine schmalen dunklen Äste in die Welt hinausstreckt, wenn er nach Leben und Liebe durstet, wenn ihn Nacht und Nebel vom Rest trennen, in dieser Einsamkeit ist er verwundbar, ist er auch noch so mächtig, wenn die Sonne scheint und die Vögel zwitschern.
Einsam steht er im Winter da, ein Baum, nackt und gebrechlich. Nach einem Schneesturm ist er überladen mit weissem Pulver, das die Äste beschwert, nach unten zieht.
Mahnend bewacht er den Garten, ist ein stummes Denkmal an Zeiten, die wir so sehnlichst zu vergessen versuchen. Jeder seiner Äste, jeder Spross trägt die Narben der Ewigkeit, er verblasst nicht, kaum etwas kann ihn erschüttern. Er hat die Welt in Tränen gesehen, hat all den Schmerz gefühlt, der die Meere erfüllt, viele Risse in seiner Rinde zeugen von Spannungen, die im Laufe der Zeit ihre Spuren hinterlassen haben.
In der allerdunkelsten Nacht, in einem mächtigen Sturm, bei dem das Herz in kaltem Griff gefangen wird, da kommt ein zerstörerischer Windstoss, der die Kraft hat, den Baum aus der Erde zu entreissen, ihn zu besiegen.
Und so kommt es, dass man ihn im Morgengrauen, wenn der Nebel noch auf den Feldern liegt und das Klopfen der Herzen dämpft, findet, wie er am Boden liegt, bloss noch ein Schatten seiner ursprünglichen Pracht, ein mageres Skelett.
Noch manche Jahre darauf erinnert man sich an die Krone, deren höchste Äste anscheinend die Wolken gekitzelt haben und all die Vögel, die in ihm Verstecken gespielt haben. Man sagt, er sei kräftig gewesen, habe jede dunkle und kalte Jahreszeit wieder durchgestanden, bis er, durch den Schnee geschwächt und die Einsamkeit erschöpft, in einer dunklen Nacht seines Lebens entrissen wurde.
Seine Äste werden nie wieder gen Himmel zeigen.

 

Kommentare

Profilbild
Am 25.11.2017, Nederlandfreak
Hi Leralya

Ich finde deinen Text sehr schön geschrieben. Gerade bei so einem spannenden Thema, wie die Gefühle eines "gewöhnlichen" Baumes und Fragen, die man sich stellt, wie und was eigentlich so ein Baum im Laufe der Zeit fühlt. Auch deine Wortwahl ist vielfältig und hält die Spannung des Textes.
Gute Arbeit! ;)

LG Nedi