Der von Dort

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Nederlandfreak
Veröffentlicht: 19.08.2017 13:09
Aktualisiert: 19.08.2017 13:09
Kategorie: Dies & Das
Tags: stadt, Nacht, Reise
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Kurzbeschrieb:
Nach einer wahren Begebenheit...

Text

Mit langsamen Schritten schlendere ich durch diese Stadt. Eine Stadt so fremd und so weit weg. Ich spüre förmlich, wie das dritte Glas des warmen, klaren Tropfens in meinem Kopf zu wirken beginnt. Es fühlt sich an, wie ein Feuer, welches sich in meinen Venen ausbreitet, von dort aus in meinen Körper fliesst und meine Sinne nach und nach in Flammen aufgehen lässt. Ich lasse mich treiben, durch die strömenden Menschenmassen. Ich lasse mich treiben, von Pub zu Pub. Doch eigentlich habe ich gar kein Ziel. Wo soll ich denn hin an einem Donnerstagabend in einer fremden Stadt?

So treibt es mich in einen kleinen Park, umrundet von Backsteinhäusern und Bäumen. Erschöpft von meinem Spaziergang durch diese grosse Stadt, lehne ich mich an ein Klettergerüst an, welches in der Mitte des Parks steht. Um die Sterne zu betrachten, sehe ich nach oben. Mein Blick, umringt von Baumkronen, umfasst die nächtliche Schwärze. Je schärfer mein Blick wird und je mehr sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, desto besser kommen die Sterne langsam hervor. Hervor, aus der Dunkelheit, hervor aus ihrem Versteck. Entspannt und überwältigt von der Schönheit der Nacht, stosse ich einen langen Atemzug aus, worauf sich in der kalten Juliluft Nebel entwickelte. Von einer nahegelegenen Strasse höre ich Polizeisirenen und auch die laute Autobahn ist von hier nicht weit. Und trotzdem ist es so still in diesem Park, in dieser Lichtung, umgeben von Reihen aus Backsteinhäusern und Wolkenkratzern.

Auf einmal rieche ich Zigarettenrauch. Verwundert, wer wohl ausser mir an einem Donnerstagabend um diese späte Uhrzeit seine Zeit in diesem Park totschlug, drehe ich mich um und entdecke zwei junge Menschen etwa in meinem Alter. Sie sitzen auf der Bank neben mir, stossen nach und nach den inhalierten Rauch aus und scheinen mich nicht des Weiteren zu beachten. Gewagt gehe ich mit meinem mittelmässigen Englisch auf die beiden zu und frage höflich, ob ich mich wohl zu ihnen gesellen dürfe. Offen und freudig, wie die Einheimischen hier sind, gestatten sie es mir.

Eine junge, reizende Dame steht mir gegenüber, welche extra aufgestanden ist, um mir Platz zu machen. Sie trägt eine enge, blaue Jeans, wobei ihre schöngeformten Beine gut zur Geltung kommen und dazu einen schwarzen Hoodie. Neben mir sitzt ein Typ, ebenfalls jung. Auch er trägt einen schwarzen Hoodie. Seine langen Haare bedeckt er mit einer grauen Wintermütze, um sich von der kühlen Juliluft in dieser Stadt zu schützen. Im Gegensatz zu seiner Freundin, die ohne Probleme stehen kann, ist es für den Kerl sogar schon unmöglich, gerade auf der Bank zu sitzen. Der Abend wirkt sich ebenfalls auf seine Aussprache aus, wie ich nach einiger Zeit bemerke. Das meiste, was er von sich gibt, ist entweder nur schwer zu verstehen oder ergibt einfach gar keinen Sinn. Vielleicht liegt es aber auch am speziellen Englisch, welches man in dieser Gegend spricht. Mit einem letzten Atemstoss, lässt der junge Mann den restlichen verbrannten Tabak aus seinem Mund hinausgleiten und fragt mich dann, was ich denn um diese Uhrzeit hier mache. Dasselbe, was ich mich auch schon gefragt habe.

So entsteht auf einmal ein interessantes Gespräch zwischen den Einheimischen und mir. Ich bin erstaunt, wie ähnlich die Jugend in diesem Land tickt, verglichen zur Schweiz. Dieselben Themen, dieselben Probleme, dieselben, wenn auch manchmal obszönen Wortausdrücke. Ähnliche Gedanken, ähnliche Träume, ähnliche Visionen, die in ihren Köpfen herumschwirren. Visionen, die sie nicht länger in ihren Köpfen zu verharren vermögen. Sie wollen hinaus, hinaus in die weite Welt und von allen gehört werden. Ein Land, so fern, mit Leuten einer komplett anderen Kultur. Und dennoch sind sie so ähnlich.

Nach einiger Zeit packt die junge Dame ein Sandwich heraus, isst davon zwei Bisse und gibt es mir weiter. Natürlich habe ich nach meinem langen Mondspaziergang Hunger und beisse ebenfalls davon ab, bevor ich es dem neben mir weiterreiche. Etwas spüre ich. Ich spüre, dass irgendetwas an der ganzen Szenerie merkwürdig ist. Es kommt mir fast schon vor, wie ein schlecht inszenierter Kinofilm. Aus meinem Augenwinkel erkenne ich den Blick des Kerls neben mir.

So hoffnungslos und leer starrt er auf den Boden, während er den letzten Bissen des Sandwiches verschlingt. Seine Miene veränderte sich im Verlauf unseres Gesprächs nie. Irgendetwas muss ihn beschäftigen, Irgendetwas oder Irgendjemand, muss ihm grauenhaft wehgetan haben. Verzweifelt streicht er sich mit beiden Händen über seinen, von der grauen Mütze bedeckten Kopf. Er versucht, seine Emotionen zu verstecken, versucht stark zu bleiben, gegenüber seiner Freundin, gegenüber mir, dem einfachen, gewöhnlichen Touristen. Doch ich spüre es. Ich weiss es.

Meine neuen Reiseführer entscheiden, mich in ihren Lieblingspub mitzunehmen. So schlendern wir nun schon zu Dritt durch die vollen Strassen dieser Stadt, bis wir schlussendlich am gewünschten Ziel ankommen. Die junge Dame entscheidet plötzlich doch, uns zu verlassen, sagt mir es war nett, mich kennenzulernen und verschwand im nächsten Taxi.

Im Pub angekommen, zwänge ich mich durch die an der Bar anstehenden Menschenmenge und besorge uns zwei Biere. Während sich die kühlen Tropfen des übergelaufenen, gelben Sekrets über meine Handflächen schleichen, begebe ich mich an den grossen, runden Tisch, den der Kerl für uns reservierte. Dieses letzte Bier scheint seine Zunge endgültig zu lockern und er beginnt mir seine Lebensgeschichte anzuvertrauen.

Diese eine Dame, welche uns vor wenigen Minuten verliess, brach ihm im Collegealter das Herz. Sein ganzes Leben, alles was er war und alles was er hatte, all seine Energie und all seine Liebe, brachte er für sie auf. Er liebte sie so dermassen und hoffte so sehr, dass sie auf ewig zusammenbleiben würden. Doch dann kam ein anderer und er musste Platz machen. Alles, was er für sie aufbrachte, gab sie an den anderen Typen weiter, vor seiner Nase. Es verging kein Tag, an dem es nicht wehtat, zusehen zu müssen, wie seine grosse Liebe seine Gefühle nicht mehr erwiderte. Ein so unbeschreiblicher Schmerz, der ihn Tag für Tag, Woche für Woche begleitete. Der Schmerz wurde zu seinem Alltag, er begann, sich in sein normales Leben einzumischen, bestimmte Raum und Zeit, raubte ihm den Schlaf und den Elan, überhaupt etwas aus seinem Leben zu machen. Tag für Tag, Stück für Stück zerbrach er immer wie mehr. Nach einem Jahr hielt er es nicht mehr aus und brach das College ab.

Nun hat er nichts mehr. Kein Collegeabschluss, keine Ausbildung, nichts. Bei seinen Eltern wohnt er, wenn auch nur temporär. Manchmal schicken sie ihn raus auf die Strasse, lassen ihn für mehrere Tage vor der Haustür leiden, auch im Winter, in dem es in dieser Gegend zu eiskalten Temperaturen kommen kann. Das alles, wegen einer Frau. Er selbst, wäre er eigentlich ein sehr schlauer Typ, mit einer hervorragenden Persönlichkeit. Mit seinem besten Freund leitet er sogar eine Band. Doch diese eine Frau, ist für ihn wie eine Blockade. Eine Blockade, die jede Chance auf ein anständiges Leben, jede Chance auf einen Erfolg, verhindert.

Hastig trinke ich die letzten Schlucke meines Biers. Diese Geschichte bringt mich zum Nachdenken und langsam aber sicher, beginne ich Mitleid mit dem Typen zu bekommen. Nur kann ich nichts machen. Ich kann die Situation meines neuen Kumpels aus dem fernen, wilden Norden nicht ändern. Was soll denn bitte ein gewöhnlicher einfacher Tourist in einem fremden Land, in einer fremden Stadt, auswirken können?

Auf dem Weg hinaus, versuche ich ihm neuen Mut einzureden. Dass alles gut werde und dass er die Freundschaft zur jungen Dame kappen soll. Er verspricht mir, dies zu tun und bedankt sich für meine Hilfe. Erleichtert, dem neuen Kumpel doch noch helfen zu können, laufe ich mit ihm die Strasse hinunter, vorbei an der angeheiterten Menschenmenge, vorbei an den lachenden, glücklichen Leuten. Da treffen wir auf eine Gruppe gleichaltriger. Ohne zu wissen, wer diese Leute sind, geht er auf die Gruppe zu und fragt den grössten der Gruppe nach einer Zigarette, anschliessend stellt er mich der Gruppe vor. Erfreut, weitere neue Leute kennen zu lernen, fokussiere ich mich komplett auf die neuen Bekanntschaften.

Nach wenigen Minuten drehe ich mich um. Der Kerl, mit dem ich den ganzen Abend unterwegs war, ist fort. Beim Überblicken der vielen Köpfe der Menschen, entdecke ich noch seine graue Mütze im Getümmel. Ich rufe nach ihm, doch er scheint mich nicht mehr hören zu können.

So geht er dahin, läuft alleine durch die Strassen dieser grossen Stadt, auf seine unbestimmte Zukunft zu, dem Schicksal überlassen. Der von Dort.

Kommentare

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Am 20.08.2017, Nederlandfreak
Hi Kirja

Erstmal vielen Dank für dein Feedback, freut mich, dass der Text gut ankommt. :)

Ja, mit der Gegenwart habe ich so meine Probleme, was halt daran liegt, dass ich vor allem in der Vergangenheit schreibe. Ich dachte, ich mache mal was anderes. Vielen Dank für die hilfreichen Hinweise.
Wegen dem schwarzen Hoodie: Es war halt wirklich so, dass beide einen schwarzen Hoodie trugen und ich somit die Farbe nicht einfach ändern kann, da mir das alles genau so widerfahren ist (Siehe Kurzbeschrieb). Sonst würde ich ja falsche Informationen wiedergeben, auch wenn es jetzt nur etwas ganz banales ist.

Nochmals vielen Dank für deine Rückmeldung und deine Hinweise. Hat mir sehr geholfen! ;)

LG Nedi
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Am 19.08.2017, Kirja
So hoffnungslos.... dieser absatz gefällt mir besonders, er hat mich auf eine Andere art mitgerissen.
eine zweite kleine Zeitenkritik: du hast präteritum gebraucht um die vergangenheit zu beschreiben, auf mich wirkt dies hier komisch, es wirkt sozusagen immer noch im jetzt, aber trotzdem in der vergangenheit. mein vorschlag: Seine Miene hat sich im Verlauf unseres Gesprächs nie verändert. also die Zeitform Perfekt.
Doch ich spüre es.. Ich weiss es. .. sehr gute wortwahl. es hat something foreboding.

Stück für Stück zerbrach er immer "wie mehr". .. ist komisch? umschreiben?

so, das wars schon. schön geschrieben. und einen schönen Bogen zum Schluss gemacht;)
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Am 19.08.2017, Kirja
kurz, hoffentlich knackiges feedback.
Die Satzstellungen und Variation sind gut. Es lässt sich recht flüssig lesen. Die Sprache ist schon fast poetisch.
Kleine Kritik,... in diesem Park "totschlug", Achtung, den rest hast du im Präsens geschrieben, da würde ich dir anraten, dies auch hier zu tun.
Sie trägt "eine" enge, blaue Jeans. "eine" würde ich auslassen. Jeans ist aus irgend einem Grund immer Mehrzahl.
schwarzen Hoodie, ist zweimal genau gleich, vielleicht schwarz mit etwas ersetzen?