Merlin schielte auf seine Uhr. Die hatte er von seinem Onkel bekommen. Zweitausend Franken wert und auf der Welt gab es nur fünf Exemplare. Stolz strich er über das Armband. Echtes Leder. Sein Onkel war schwer in Ordnung und ausserdem Multimilliardär. Ausser seinem besten Freunden Josh und Lena wusste das niemand. Wenn man seinen Bruder Larry, seine Mutter und seinen Vater nicht mitzählte. Und natürlich seine Grosseltern und die ganze Verwandtschaft. Und sein Lehrer hatte es auch mal durch Zufall erfahren. Na ja, eigentlich wussten es die ganzen zweihundert Kinder an Merlins Schule. Aber die waren ja wirklich ein Klacks, wenn man bedenkt, dass auf der Welt fast acht Milliarden Menschen leben. Endlich klingelte es. Merlin sprang auf und verschwand mit seinem Turnbeutel in Richtung Turnhalle. Jetzt stand Sport auf dem Stundenplan, sein absolutes Lieblingsfach. Aber das war auch kein Wunder, schliesslich spielte Merlin in seiner Freizeit Fussball, Handball, Basketball und Unihockey. Bei all den vielen Hobbys blieb kaum mehr Zeit für Hausaufgaben, aber das war Merlin egal. Aus Schule machte er sich nicht viel.

In der Garderobe roch es nach verschwitzten Sportklamotten und Käsefüssen. Angewidert rümpfte Merlin die Nase und zog sich schnell um. Seine Uhr nahm er mit in die Halle. Er konnte sie dem Sportlehrer zum Aufbewahren ins Schliessfach geben. Das Hallenschliessfach war wie ein Spind in der Halle, der in die Wand eingelassen war. Er diente zum Aufbewahren von Wertsachen.

Als schliesslich alle Kinder in der Turnhalle erschienen waren, Merlin seine Uhr und Josh seine Mosaikarmband abgegeben hatten, begann das Aufwärmen. Merlin fühlte sich frei, wenn er sich bewegen konnte und vergass dann immer alles um ihn herum. Viel zu schnell war die Stunde vorüber und diskutierend über das Endergebnis des Fussballturniers lief er mit Josh zurück zur Garderobe. Nachdem er geduscht und angezogen war, lief Josh plötzlich: „Mist, ich hab’ mein Armband vergessen!“ Merlin erstarrte. „Meine Uhr!“, rief er und merkte nicht mal, dass er nur eine Socke angezogen hatte. Schnell riss er die Garderobentür auf und flitzte den Gang entlang. Zwar befürchtete er nicht Schlimmes, aber zweitausend Franken einsam in einer Turnhalle zu lassen, war doch etwas nachsichtig. Hinter sich hörte er Josh schnaufen. „So warte doch mal! Die wird schon niemand geklaut haben, schliesslich hat Herr Dammtown doch den Schlüssel.“

„Na eben! Der hat sie doch bestimmt selbst geklaut“, gab Merlin trotzig zurück. Wenn es um seine Uhr ging, war er schrecklich empfindlich. Er rüttelte an der Tür.

„Geh auf, dummes Ding“, rief er und zog wie verrückt. Josh grinste.

„Was ist? Hilf mir lieber, statt so dumm zu grinsen“, rief Merlin Josh zu und zog wieder wie verrückt. Josh stiess ihn sanft weg und nahm die Türklinke in die Hand. Demonstrativ langsam drückte er die Tür nach innen. Mit einem Quietschen öffnete sie sich. Ohne ein Dankeswort stürmte Merlin zu dem durchsichtigen Spind. Vier Fächer. Hektisch liess Merlin seinen Blick schweifen. Erstes Fach: Zwei Haargummis. Zweites Fach: Joshs Armband. Merlin atmete tief durch und kniff die Augen zusammen. Dann wagte er sich an das dritte Fach: Eine Perlenkette. Viertes Fach: Staub und Dreck.

Für Merlin brach die Welt zusammen.

„Überlegen wir einmal logisch. Herr Dammtown hat den Schlüssel, nur er kann den Spind öffnen“, meinte Lena und blickte auf den leeren Spind. Sie und Josh versuchten Merlin so gut wie möglich zu trösten.

„Es könnte sein, dass jemand Herr Dammtown den Schlüssel geklaut hat. Wer war alles zuletzt in der Turnhalle?“, überlegte Josh weiter.

„Das ist es! Ich, Ruby, Xaver und Katrin waren noch in der Turnhalle und haben geholfen die Geräte zu verräumen. Da ist Herr Dammtown kurz rausgegangen und hat den Schlüssel dagelassen! Nacheinander haben ich, Ruby, Xaver und Katrin den Geräteraum verlassen und sind in die Garderobe gegangen. Da ich als Erste ging konnte ich nicht sehen, wer die Uhr geklaut hat, aber klar ist: Jemand von ihnen muss es gewesen sein!“, erzählte Lena aufgeregt.

„Na, dann ist der Fall klar! Wen quetschen wir zuerst aus?“, meinte Josh grinsend.

Aussage 1:

Ruby

„Ich habe nach Lena die Turnhalle verlassen. Am Spind hatte ich überhaupt nichts zu suchen. Und vor allem was sollte ich mit einer Uhr, wie die von Merlin? Mir wäre es lästig ein solch teures Ding mit mir herumzutragen. Wird ja eh nur geklaut. Nee, zurück in die Halle bin ich nicht mehr, was sollte ich dort auch?“

Aussage 2:

Xaver

„Mal im Ernst? Merlin ist einer meiner besten Kumpels, ich würde ihn nie beklauen. Ich geb’s ja zu, am Anfang war ich ziemlich neidisch auf das Lederteil und ich bin es auch jetzt noch, aber nie würde ich ihn beklauen! Ob ich nochmal zurückgekommen bin? Allerdings. Hab meine Turnschuhe im Geräteraum vergessen und danach bin ich fast nicht mehr rausgekommen, weil diese dumme Tür so sehr geklemmt hat. Schliesslich hab’ ich sie aufgebracht und hätte mit der Tür fast Herrn Dammtown umgeworfen, der gerade im Gang zurücklief. Danach bin ich in die Garderobe zurückgegangen.“

Aussage 3:

Katrin

„Was? Merlin ist beklaut worden? Was ist denn geklaut worden? Die Uhr? Oooch, nee, du Armer, du! Also falls ihr mich verdächtigt, ich war’s bestimmt nicht. Wenn ich auf was scharf wäre, dann auf Joshs Armband... Natürlich, entschuldigt, weiter geht’s. Zurückgekommen? Ja, ich musste Herrn Dammtown noch was wegen der Geografieprüfung fragen. Ob dann die Uhr noch da war? Ich weiss es nicht, hab nicht geschaut. Du tust mir leid, Merlin. Vielleicht können wir dir ja zum Geburtstag eine Neue schenken?“

„Ich weiss auf jeden Fall, wer von euch zumindest in einer Sache gelogen hat“, sagte Merlin triumphierend zu seinen Mitschülern.

Wer macht sich verdächtig?