Immortals (Leseprobe)

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Theresbeautyineverything
Veröffentlicht: 31.07.2017 17:55
Aktualisiert: 03.08.2017 14:00
Kategorie: Science Fiction
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Kurzbeschrieb:
Das Buch ist noch nicht fertig überarbeitet, weswegen sich noch einiges ändern kann - besonders im Vergleich zu der Version der Geschichte, die ich hier gepostet habe. In diesen beiden Kapiteln wird die Handlung jedoch größtenteils gleich bleiben.

Text

1

 

 

Shade

 

 

Das Pochen meines Herzens und das Geräusch der Schritte hinter mir vermischten sich zu einem chaotischen Rhythmus. Ich rannte, immer weiter, auch wenn meine Beine schmerzten und meine Lungen brannten, nur weg hier, raus aus dem Stadtbezirk der Mortals.

 

Ich stolperte über etwas, das am Boden lag, und wäre beinahe hingefallen. Ohne hinzusehen, wusste ich, dass es ein Mensch war, trotzdem erlaubte ich mir einen kurzen Blick. Männlich, schätzungsweise wenige Jahre älter als ich. Im fahlen Licht des Vollmondes war nicht zu erkennen, ob er noch lebte. Es hätte mich nicht überrascht, wäre er tot gewesen; Tote waren hier nichts Außergewöhnliches, anders als bei den Immortals.

 

„Da vorne ist sie!“

 

Einen kurzen Moment schien die Zeit still zu stehen. Schritte. Das Rauschen meines Blutes. Meine zitternden Beine. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann rannte ich los, schneller als zuvor, oder vielleicht kam es mir auch nur so vor. Adrenalin rauschte durch meine Adern, ließ mich alles andere vergessen, ich musste nur rennen, Schritt für Schritt.

 

Da vorne war das Tor. Hell beleuchtet, wunderschön und verschlossen, wie immer, doch das würde mich an nichts hindern.

 

Ich machte eine scharfe Kurve nach links und sprintete auf den Zaun auf der linken Seite des Tors zu. Eigentlich war es mehr ein Gitter als ein Zaun, etwa drei Meter hoch. Die Gitterstäbe schimmerten in der Dunkelheit, von innen beleuchtet. Keine Schutzmaßnahmen. Normalerweise machten sich die Mortals schließlich auch nicht die Mühe, über den Zaun zu klettern. Wozu auch? Die Häuser der Immortals waren gesichert und selbst wenn sie es nicht gewesen wären, gab es in ihnen ohnehin nichts zu holen. Wir waren sterblich und wohnten im Dreck, machte es da einen Unterschied, ob wir einen gestohlenen Fernseher oder so was hatten? Was der Zaun wirklich war, war ein Symbol für die Trennung zwischen uns. Als ob die nicht schon deutlich genug gewesen wäre.

 

So schnell ich konnte, kletterte ich am Zaun hoch. Die Gitterstäbe fühlten sich warm an und ich widerstand dem Bedürfnis, innezuhalten und meine nackten, durchgefrorenen Füße an ihnen zu wärmen. Immer wieder rutschte ich ab und hörte, wie meine Verfolger immer näher kamen, begleitet von lautem Lachen und Rufen. Es machte ihnen Spaß, das hörte man. Das Klicken von Waffen, dann ein Schuss, aber nur in die Luft, um mich einzuschüchtern und mir zu zeigen, dass sie Waffen hatten. Sie wollten mich nicht töten. Leider.

 

Hektisch schwang ich ein Bein über die Spitzen am oberen Ende der Gitterstäbe, dann das zweite, und dann ließ ich mich einfach fallen. Ich landete in den Rosenbüschen, Dornen stachen in meine Haut. Ich war oft zum Zaun gekommen, um diese Büsche auf der Seite der Immortals anzusehen. Sie waren wunderschön, der Regenbogen aus genetisch veränderten Rosen in allen Farben, aber auch wie die Büsche geformt waren, so perfekt rund und gepflegt. Nun sahen sie wahrscheinlich nicht mehr so perfekt aus. Meine Landung musste sie ziemlich beschädigt haben. Doch es ging hier um wichtigere Dinge als die Rosen der Immortals.

 

Auf der anderen Seite des Zauns fluchte jemand. Ein weiterer Schuss ertönte, der mich glauben lassen sollte, dass sie auf mich schossen. Beinahe hätte ich laut aufgelacht. Als ob mich das interessierte. Sollten sie mich doch erschießen. 

 

Aber natürlich wartete ich nicht darauf. Das Adrenalin betäubte die Schmerzen der Dornen, die meine Haut blutig gekratzt hatten, und ohne nachzudenken stand ich auf und rannte weiter. Über den Zaun würden sie bestimmt nicht klettern, redete ich mir ein. Die würden lieber abwarten bis ich verhaftet wurde, weil ich den Stadtbezirk der Immortals betreten hatte.

 

Die meisten Mortals, selbst die reicheren, hatten Angst, die Seite der Immortals zu betreten. Aberglaube und Angst, verhaftet oder gleich erschossen zu werden, lagen hier sehr nahe beieinander.

 

Ich hatte keine Angst. Vielmehr erfasste mich eine Art Ehrfurcht, als ich den glatten Asphalt unter meinen nackten Füßen spürte. Keine Risse, kein Dreck, kein herumliegender Müll. Keine Toten. Ich konnte die Silhouetten der Häuser sehen, so ordentlich aufgereiht, bewohnt von reichen, unsterblichen Menschen. Ich konnte die gepflegten Gärten erahnen, hier und da brannte noch Licht in einem Fenster. Die Illusion einer perfekten Welt.

 

Das erste Mal, dass ich auf der Seite der Immortals war. Nun durfte mich bloß keiner erwischen, sonst wäre ich so gut wie tot.

Als das schwache Licht des Zauns weit genug weg war, um von der Dunkelheit verschluckt zu werden, merkte ich erst, wie müde ich eigentlich war. Sie waren nachts gekommen, wie schon bei meiner Mutter, und ich war eine gefühlte Ewigkeit gerannt. Da war immer noch restliches Adrenalin in meinem Blut, doch ich spürte bereits die Dornen, die sich in meine Haut gebohrt hatten. Bestimmt sah ich völlig fertig aus, schmutzig und zerkratzt. Aber mein Aussehen war sowieso etwas vom Letzten, was mir wichtig war.

 

Ich schleppte mich eine weitere Straße entlang und ließ mich dann erschöpft zwischen zwei Häusern auf den Boden fallen. Durch die Lücke zwischen den Dächern über mir sah ich ein paar der Sterne. Eine schwebende Straßenlaterne warf Licht auf den Boden vor mir.

 

In den Fenstern der Häuser brannte kein Licht mehr. Immortals schliefen mehr als wir Mortals; kein Mortal wollte die wenigen Jahre, die er zu leben hatte, mit Schlafen verschwenden.

 

Außer ich. In diesem Moment wollte ich nur noch schlafen. Auch wenn ich mir der Gefahr bewusst war, war ich zu müde um mich darum zu kümmern. Ich lehnte mich gegen die Hauswand des rechten Hauses und schloss die Augen. Zuerst schlug mein Herz noch hart gegen meine Rippen und ich wagte es kaum, zu atmen. Doch als ich nach einer Weile keine Schritte oder Schüsse mehr hörte, entspannte ich mich und ließ zu, dass der Schlaf mich übermannte.

 

 

„Du musst kämpfen, Shade! Vertrau ihnen nicht!“

 

Meine Mutter schrie und zerrte an ihren Fesseln. Ich wollte zu ihr rennen, doch einer von ihnen hielt mich fest. Seine Hände waren wie Schraubstöcke an meinen dünnen, nackten Armen. „Mom!“, kreischte ich. „Mom!“ Immer und immer wieder, als könne ich die Männer mit diesem einen Wort davon abhalten, sie mitzunehmen.

 

„Du bist stark, Schatz! Lass nie zu, dass sie dich auch holen!“, rief meine Mutter, während sie sich zwecklos dagegen wehrte, ins Auto gedrückt zu werden. Die Tür fiel hinter ihr zu und sie schlug mit den Fäusten gegen die Fensterscheiben; ihr Mund formte Worte, die ich nicht verstehen konnte. Ich zitterte am ganzen Körper.

 

„Keine Sorge, Kleines. Wenn du volljährig bist, nehmen wir dich auch mit“, sagte einer der Männer.

 

Der eine startete den Motor, derjenige, der mich festgehalten hatte, gab mir einen Stoß  und ich landete unsanft auf dem Boden. Aus dem Augenwinkel sah ich das Auto wegfahren, doch das war mir egal. Zu beschäftigt war ich damit, zu begreifen, was gerade geschehen war. Und so blieb ich einfach liegen, auch als es zu regnen begann. Der Regen durchnässte meine löchrigen Klamotten, die nun nie wieder jemand für mich flicken würde, und wusch die Tränen weg.

 

 

 

2

 

 

 

Cess

 

Mein Wecker weckte mich, indem er Bilder an die Wände projizierte und Musik spielte. Heute waren es Ballons und das klassische, jahrhundertealte „Happy Birthday“. Eine große achtzehn erschien auf der Wand gegenüber von meinem Bett, darunter ein Unendlichkeitszeichen.

 

Nach wenigen Sekunden wurde das Bild von eintreffenden Nachrichten ersetzt, Videobotschaften von meinen Freunden und den Leuten, die mich aufgezogen hatten, alle beglückwünschten mich dazu, dass ich heute meine erste Tablette schlucken durfte. Ich dankte allen hastig, dann sprang ich aus dem Bett und ging die Treppe runter. Gerne wäre ich gerannt wie ein kleiner Junge, doch das war ich nicht mehr. Ich war achtzehn Jahre alt und ein vollwertiger Immortal. Erwachsen. Und, vor allem, unsterblich.

 

Auf dem kleinen, runden Küchentisch lag das Paket, das gestern angekommen war. Es war groß, quadratisch und leicht. Meine erste Monatsration an Tabletten. Voller Ehrfurcht betrachtete ich den bräunlichen Karton, der an mich adressiert war. Cess Mallen, stand vorne drauf, in runden schwarzen Buchstaben. Meinen Nachnamen würde ich ab heute offiziell tragen, aber im Vergleich zur Einnahme der Tabletten war das keine große Sache. Er war mehr so was wie ein Accessoire, das uns Immortals von den Mortals unterschied.

 

Ich riss den Karton auf und legte den Beilagezettel beiseite. Ich wusste bereits, was darauf stand – die üblichen Informationen darüber, wie die Tabletten wirkten (sie verbesserten die Zellerneuerung des Körpers, sodass nicht mehr Zellen abstarben als produziert wurden – früher war dies der Grund dafür gewesen, dass die Menschen an Altersschwäche starben) und dass es tödlich war, die Tabletten zu kurz hintereinander oder zu lange nicht zu nehmen, da der Körper sich auf die Wirkstoffe darin einstellte. Als ob irgendjemand tatsächlich die Vorschriften missachten würde, die man uns schon so ziemlich unser ganzes Leben lang eingetrichtert hatte.

 

Voller Vorfreude drückte ich die erste Tablette aus ihrer Verpackung. Sie war klein, rund und blau. So ein unscheinbares Ding, doch es bewirkte so viel. Es hatte das Leben aller Menschen verändert. Na ja, aller Menschen, die nicht darauf hatten verzichten müssen – entweder wegen fehlendem Geld oder aus freier Entscheidung.

 

Ich schluckte die Tablette ohne Wasser und wartete darauf, dass die Wirkung einsetzte.

 

Natürlich wartete ich vergeblich. Man spürte es nicht, wenn die Tabletten wirkten. Nur wenn sie nicht wirkten, merkte man es irgendwann. Nämlich dann, wenn man nach zehn Jahren älter aussah als jetzt. Was natürlich noch nie vorgekommen war.

 

 

Ein wenig später verließ ich das Haus, um erstmal im Café um die Ecke zu frühstücken. Dabei brauchte ich mein Holo-Pad zur Navigation, denn ich war erst gestern von der Kinderbetreuung hierher gezogen. Ja, das hieß wirklich so, auch wenn es dort längst schon keine Kinder mehr gab. Ich war der Letzte gewesen, nachdem vor wenigen Wochen Jacy achtzehn geworden war. Alleine war es unheimlich langweilig gewesen. Nur ich und die ganzen unsterblichen Erwachsenen, die kaum älter waren als ich und mich trotzdem wie ein kleines Kind behandelt hatten.

 

Nach mir würde niemand mehr kommen. Kinder gab es nicht mehr. Niemand brauchte Kinder, wenn die Menschen unsterblich waren. Ich hatte Glück, überhaupt geboren worden zu sein. Früher wäre ich die jüngste Person in der gesamten Gesellschaft gewesen. Doch jetzt war Zeit bedeutungslos. Jedenfalls für uns Immortals. Die Mortals zählten auch nach ihrem achtzehn. Geburtstag noch die Jahre. Es gab Gerüchte, dass manche von ihnen sogar noch Kinder bekamen, auch wenn das streng verboten war. Schließlich hatte niemand Interesse daran, dass sich die Armen verbreiteten und weiter bestanden. Bald würde es nur noch uns Immortals geben. Reich, gebildet und unsterblich. Und manchmal auch schrecklich langweilig, aber das gehörte wohl dazu.

 

Ich drehte mich erschrocken um, als ich einen Aufschrei hörte.  

 

Noch war ich nicht weit gelaufen, sodass ich sie gut sehen konnte - zwischen meinem Haus und dem Haus des Nachbarn lag ein Mädchen und schrie im Schlaf. Sie wälzte sich unruhig hin und her und ihre schwarzen Haare fielen ihr ins Gesicht. Ihre Kleider waren löchrig und schmutzig, die nackten Füße zerkratzt und blutverschmiert. Sie war eine Mortal, da war ich mir ziemlich sicher. Aber wieso war sie hier und nicht auf ihrer Seite des Zauns, wo sie hingehörte?

 

Vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken, ging ich näher heran. Die einzigen Mortals, die ich bisher gesehen hatte, waren die zerlumpten Gestalten gewesen, die sich im Winter am Zaun wärmten. Fasziniert beobachtete ich das Mädchen. Die Vorstellung, dass sie irgendwann sterben würde, obwohl sie im Moment noch so jung aussah wie ich, war irgendwie seltsam. Aber das dachte ich jedes Mal, wenn ich einen Mortal sah.

 

Womit ich hingegen nicht gerechnet hatte, war ihr Aussehen. Sie war zweifellos hübsch. Die kleine Nase, die langen Wimpern und die leichten, fast unsichtbaren Sommersprossen. Doch auch diese zerbrechlich aussehende Schönheit änderte nichts daran, dass sie nicht hierher gehörte. Was machte sie also hier?

 

In diesem Moment öffnete sie die Augen und schrie auf, noch lauter als sie im Schlaf geschrien hatte. Ihre Augen waren schön. Graublau, aber mehr grau als blau, umrahmt von dichten, dunklen Wimpern. Diese Augen starrten mich nun verschreckt und ängstlich an. Das Mädchen zitterte am ganzen Körper. „Bitte melde mich nicht. Ich gehe schon wieder.“ Ganz leise, sie musste glauben, dass ich es nicht hörte, fügte sie hinzu: „Auch wenn sie mich dann holen.“

 

Ich wusste nicht, wer sie waren, doch ich hatte Mitleid mit diesem Mädchen. Sterblich, schmutzig, abgemagert und ihre Füße taten sicher auch weh. „Kann ich dir irgendwie helfen? Deine Füße verarzten oder so?“, bot ich an. Ich hatte keine Erfahrungen im Umgang mit Mortals. Konnte ich mit ihr auf dieselbe Art sprechen, wie ich mit anderen Leuten sprach? Anscheinend nicht, denn sie starrte mich an, die Augen weit geöffnet, die Augenbrauen zusammengezogen. „Das meinst du nicht ernst.“

 

„Doch. Du siehst aus, als hättest du Schmerzen“, sagte ich.

 

Ihre Gesichtszüge verhärteten sich und sie schnaubte. „Interessiert dich doch eh nicht.“

 

Langsam hatte ich echt keine Geduld mehr mit diesem Mädchen. Waren alle Mortals so unfreundlich? Ich wollte ihr doch nur helfen. Vielleicht machte ich irgendwas im Umgang mit ihr falsch. Oder sie hatte einfach nur Vorurteile Immortals gegenüber. Zugegeben, das konnte ich ihr nicht verübeln. Manche von uns waren wirklich ziemlich unerträglich.

 

„Ich gehe schon. Du musst dich nicht noch über mich lustig machen.“ Sie stand auf und biss sich auf die Unterlippe, um nicht vor Schmerz aufzuschreien.

 

Ich seufzte. „Du kannst ja kaum laufen. Komm mit rein, ich verarzte dich.“

 

Endlich gab sie nach und folgte mir, begleitet von Flüchen, die ich nicht kannte, ins Haus. Jeder Schritt schien ihr Schmerzen zu bereiten, doch ich bot ihr nicht an, sie zu tragen. Auch wenn sie leicht aussah, ihre Knochen stachen geradezu hervor. Sie wollte bestimmt nicht, dass ich sie hochhob. So viel hatte ich in den wenigen Minuten, die ich sie schon kannte, über dieses Mädchen gelernt.

 

Drinnen schob ich ihr einen Stuhl hin und untersuchte ihre Füße. Es waren nicht viele Verletzungen, aber sie bluteten stark. Und auch an ihren Beinen und Armen waren einige Kratzer zu sehen. „Bist du etwa in die Rosenbüsche beim Zaun gesprungen?“, fragte ich, denn so sah es aus.

 

„Blutige Füße sind eine ganz nette Alternative dazu, von diesen Leuten mitgenommen zu werden“, antwortete sie nur knapp.

Ich verstand nicht, was sie meinte, doch ich fragte nicht weiter nach. Ich hatte genug damit zu tun, in den Schränken meines Badezimmers nach Heilspray zu suchen.  

 

Es dauerte eine Weile, bis ich es fand. Danach fühlte ich mich dumm, wie ein Fremder in meinem eigenen Haus, und hoffte, dass die Mortal, die bei allem zugesehen hatte, nicht über meine Suchaktion lachte.

 

Doch ihre Augen wurden nur groß, als ich sie mit dem Spray einsprühte, dieses Mal vor Staunen, weil die Verletzungen vor ihren Augen heilten und nur ein wenig verkrustetes Blut zurückblieb. Aber nur für einen kurzen Moment, dann fasste sie sich wieder und bedachte mich mit einem abschätzigen Blick. „Gute Tat für heute getan?“

 

Ich ignorierte ihre sarkastische Bemerkung. „So. Jetzt kannst du wieder laufen. Und du darfst gehen. Ich melde dich nicht.“

 

„Danke“, sagte sie leise, den Blick auf den Boden vor ihr gerichtet. Es war das erste Nette, was sie zu mir sagte, auch wenn ihre Stimme klang, als würde sie sich dafür schämen. Bestimmt war sie nicht stolz darauf, die Hilfe eines Immortals nötig zu haben.

 

Jetzt musste sie jedenfalls weg. Zurück in ihren Stadtteil, denn es war strafbar, als Immortal einen Mortal bei sich aufzunehmen.

 

Trotzdem fühlte ich mich ein wenig egoistisch, als ich nun zu ihr sagte, dass sie wohl besser gehen sollte.

 

Sie zögerte, ihr Blick wanderte zum Fenster, und als sie ein schwarzes Auto erblickte, keuchte sie erschrocken auf. „Kann ich bleiben? Bitte? Nur für einige Tage, bis sie denken, dass ich tot bin?“ Das Mädchen sah aus, als wäre sie den Tränen nahe – und ich hatte immer noch keine Ahnung, was überhaupt mit ihr los war. Warum sie überhaupt mitten in der Nacht über den Zaun kletterte und in unsere Rosenbüsche sprang.


Nun fragte ich doch, überrascht von meiner eigenen Neugier und der Schwäche, die Shade plötzlich zeigte: „Wer sind sie?“

 

„Die Leute, die meine Mutter geholt haben. Ich weiß nicht, was sie tun. Aber sie haben gesagt, dass sie mich auch holen würden. Als sie meine Mutter mitnahmen. Da haben sie es gesagt“, erklärte sie, die Augen weit aufgerissen vor Angst und Entsetzen.

 

Viel mehr als zuvor wusste ich jetzt auch nicht. Aber ich konnte sie unmöglich einfach wieder da rausschicken. So herzlos war ich nicht. „Ich versuche gar nicht erst, das zu verstehen. Versteck dich. Wenn sie kommen, lüge ich, aber erwarte nicht zu viel von mir. Ich kenne dich ja nicht mal“, sagte ich.

 

Ohne zu widersprechen, ging sie ins Wohnzimmer und kauerte sich hinter die Couch. „So?“

 

„Ja. Sie werden das Haus hoffentlich eh nicht betreten.“ Ich wusste nicht, wieso ich dieser Mortal plötzlich half. Sie war sterblich, minderwertig, arm und wahrscheinlich würde sie meine Couch schmutzig machen, wenn sie sie berührte. Doch seltsamerweise war mir das alles in diesem Moment egal. Sie hatte ihre Mutter verloren und wurde verfolgt. Von Menschen, die bestimmt nichts Gutes mit ihr vorhatten. Immer noch klebte getrocknetes Blut an ihren Füßen und ihre Haare sahen aus, als hätte sie sie seit mehreren Wochen nicht mehr gewaschen. Dazu war sie sterblich. So viel Unglück hatte kein Mensch verdient, egal ob Mortal oder Immortal. Es war Mitleid, das mich dazu bewegte, ihr zu helfen. Und vielleicht diese kleinen Sommersprossen auf ihrer Nase oder die Augen, in denen sich so viele Emotionen spiegelten, während sie tat, als wäre sie unheimlich genervt von mir.

 

Dieses Mädchen hatte zu viel erlebt. Und auch wenn ich Mitleid mit mir hatte, faszinierte sie mich auch genau deswegen. Sie war das komplette Gegenteil von allen Menschen, die ich bisher kennengelernt hatte.

 

Einige Minuten vergingen, während ich darüber nachdachte. Die digitalen Zeiger auf meiner Hologramm-Uhr tickten leise, doch die Zeit schien still zu stehen. Ich spähte aus dem Fenster und sah, wie sie – zwei Männer – der Reihe nach bei allen Häusern klingelten. Ich fragte mich, ob das, was sie taten, legal war. Und ob es jemanden interessierte, wenn es das nicht war.

 

Als es an der Tür klingelte, stand ich von meinem Stuhl auf. Ich unterdrückte den Impuls, einen letzten Blick zur Couch zu werfen, um nach der Mortal zu sehen, und öffnete die Tür. Die beiden Männer, die ich vorhin schon gesehen hatte, standen davor. Sie trugen schwarze Anzüge. Noch Sonnenbrillen dazu und sie hätten als Figuren aus einem dieser schlechten Filme durchgehen können, die mein Freund Gave so mochte. Aber sie trugen keine Sonnenbrillen und schauten mich von oben bis unten mit stechenden Blicken an. Ich erschrak ein wenig, denn sie sahen eher aus wie dreißig oder vierzig als wie achtzehn. Waren sie Mortals? Seit wann verfolgten Mortals andere Mortals?

 

Der eine nahm meine Fingerabdrücke und scannte sie. „Cess Mallen. Oh, Sie haben heute Geburtstag, herzliche Gratulation.“ Ich bedankte mich höflich.

 

Sein Kollege stieß ihn in die Seite. „Wir haben keine Zeit für so was“, zischte er ihm zu, laut genug, dass ich es hören konnte. „Wir suchen nach einem Mädchen, einer Mortal, die sich unerlaubt in diesen Stadtbezirk geschlichen hat. Ihr Name ist Shade“, sagte er dann laut zu mir und zeigte mir ein Bild des Mädchens, das sich in diesem Augenblick hinter meiner Couch versteckte. Shade. Das war also ihr Name. Er klang anders als ein Name, den man einem Immortal gegeben hatte, aber er passte zu ihr. Definitiv.

 

Ich zwang mich, nicht länger über Shades Namen nachzudenken, und schüttelte den Kopf, als wüsste ich nicht, wovon der Mann sprach. „Ich bin erst gestern hier eingezogen und habe seitdem kein einziges Mädchen gesehen, weil ich die meiste Zeit, die ich schon hier wohne, geschlafen habe. Umziehen ist ermüdend, glauben Sie mir. Und eine Mortal kommt mir sowieso nicht ins Haus“, log ich und hoffte, dass sie mir glaubten.

 

Der größere der beiden Typen zog eine Augenbraue hoch. „Sie wissen, dass Lügen dieser Art strafbar sind?“

 

„Ich lüge nicht“, log ich weiter, in der Hoffnung, dass sie keinen Lügendetektor oder so was hatten. „Ich habe keinen Grund, zu lügen. Hören Sie, ich verabscheue Mortals genauso sehr wie Sie. Außerdem bin ich erst vor wenigen Minuten aufgestanden. Ich habe mir noch nicht mal mein eigenes Haus richtig angesehen. Wenn Sie es durchsuchen möchten, kennen Sie es nachher wahrscheinlich besser als ich selbst.“ Ich setzte einen arroganten, genervten Blick auf und hielt dem stechenden Blick der Beiden stand. 

 

„Sie sind aber schon angezogen“, widersprach der kleinere Typ.

 

„Würden Sie zur Tür gehen, ohne sich anzuziehen? Wenn Sie nicht mal wissen, wer davor steht? Es hätte meine Freundin sein können und, glauben Sie mir, die hätte sich aufgeregt. Vor allem, weil ich nicht den Schlafanzug getragen hätte, den sie mir geschenkt hat.“ Ich zwang mich zu einem Grinsen, das wohl mehr wie eine Grimasse aussah.

 

Als keiner der beiden antwortete, fuhr ich fort: „Hören Sie, ich erwarte in wenigen Minuten Gäste. Heute ist mein Geburtstag und meine Freunde und ich wollen feiern. Sie sind herzlich eingeladen, ein Stück Torte mit uns zu essen.“ Der letzte Satz war zu viel gewesen, das wusste ich in dem Moment, als die Worte meine Lippen verließen. Wenn sie diese Einladung annahmen, würden sie Shade entweder finden oder das arme Mädchen würde den Rest des Tages hinter meinem Sofa kauern müssen.

 

Zum Glück lehnten sie ab. Der Kleinere verabschiedete sich höflich, während der Große nur entnervt schnaubte. „Dieser Idiot hat uns zu viel Zeit gekostet. Warum musst du immer nachfragen?“, hörte ich ihn zu seinem Kollegen sagen, bevor ich die Tür schloss.

Mein Herz klopfte wie verrückt. Erst jetzt wurde mir so richtig klar, was ich getan hatte. Ich hatte gelogen und mich strafbar gemacht. Für eine Mortal. Ich schloss die Augen und zwang mich, tief durchzuatmen. Dabei redete ich mir ein, dass sie mich nicht erwischen würden. Bestimmt nicht. Wer würde jemanden wie mich auch verdächtigen.

 

„Sie sind weg, Shade“, sagte ich zu meiner Besucherin, die sich immer noch hinter der Couch versteckte. Sie warf zuerst einen vorsichtigen Blick auf mich und die geschlossene Tür, bevor sie aufstand. Ihre Füße schienen nicht mehr wehzutun, aber sie sah völlig verängstigt aus. „Danke“, sagte sie leise. Und dann, noch leiser: „Es tut mir leid.“

 

Ich schüttelte den Kopf. „Kein Problem. Ich lebe noch. Jetzt kannst du…“ Ich brach ab, als ich realisierte, dass sie nicht gehen konnte. Weil diese Typen sie suchten. Und selbst wenn sie sich vor ihnen verstecken konnte, sie war hier im Stadtteil der Immortals. Als Mortal war das ein Schwerverbrechen, das mit dem Tod bestraft wurde.

 

Ich hatte sie versteckt und jetzt saß sie hier fest. Und natürlich konnte ich sie nicht einfach zurück in den Stadtteil der Mortals schicken, denn was auch immer diese Typen mit ihr vorhatten, es konnte nichts Gutes sein, da war ich mir sicher. Sonst hätte es Freiwillige gegeben. Entweder Mortals, die genug von ihrem erbärmlichen Leben hatten, oder Immortals, denen ihr Leben zu langweilig war.

 

Shade biss sich auf die Unterlippe, zögerte. „Ich kann gehen. Ehrlich. Oder ich kann wieder raus, zwischen die Häuser. Dort schlafen. Du musst mich nicht bei dir aufnehmen, du weißt genau, dass das mit dem Tod bestraft wird.“

 

Ich seufzte. Die Todesstrafe. Ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, das mit der Erfindung der Unsterblichkeit eine ganz neue Bedeutung bekommen hatte. „Da draußen bist du nicht sicher. Das weißt du“, sagte ich. Klar konnte ich sie jetzt einfach da rausschicken und vergessen, dass sie je existiert hatte. Doch das wäre kein Stück besser gewesen als wenn ich sie auf der Stelle getötet hätte. Und ich war kein Mörder.  

 

„Was kümmert dich meine Sicherheit? Ich bin eine Mortal. Irgendwann sterbe ich sowieso“, entgegnete sie scharf. „Hier drin bin ich auch nicht sicher. Und, noch schlimmer, ich bringe dich in Gefahr.“ Sie machte eine kurze Pause, überlegte, wobei sie mich nicht ansah. „Ich gehe raus“, entschied sie dann. „Darf ich hinter dem Haus schlafen? Hast du einen Garten? Dann kann ich behaupten, ich sei über den Zaun geklettert.“ Auf ihrem Gesicht war wieder dieser harte, verbissene Ausdruck zu sehen, der so gar nicht zu ihren Gesichtszügen zu passen schien.

 

„Ja, ich glaube, ich habe einen kleinen Garten. Irgendwo in diesem Haus gibt es sicher eine Matte oder Decke oder so was“, sagte ich.

 

„Ich brauche keine Matte oder Decke oder so was. Ich habe schon an weniger schönen Orten geschlafen als in deinem Garten“, entgegnete sie bissig. Sie ging quer durchs Wohnzimmer und legte die Hand auf die Türfalle einer Tür. „Na dann, gute Nacht.“

 

Ich schüttelte den Kopf, musste mir ein Grinsen verkneifen. „Du darfst auch gerne auf dem Klo schlafen, wenn du willst.“

 

Kommentare

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Am 18.05.2018, Secrecy1
Hey Janne

habe den Kommentar erst jetzt gelesen... werde gleich mal auf der Webseite vorbei schauen. Ich denke jetzt meinerseits, dass du diesen Kommentar nicht sehen wirst... Ich hoffe dir geht's gut und dass das Buch Erfolg hat.

Lg Secrecy
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Am 27.11.2017, Theresbeautyineverything
Hallo ^^
Sorry für die späte Antwort. Keine Ahnung, ob du das überhaupt noch liest, aber ich antworte jetzt trotzdem mal:
Ja, seit einiger Zeit ist das Buch auf Amazon erhältlich: https://www.amazon.de/Immortals-Janne-Silva/dp/374504276X/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1511809523&sr=8-1&keywords=immortals+janne+silva
Würde mich natürlich sehr freuen, wenn du es lesen würdest. ^-^
LG Janne Silva aka Theresbeautyineverything ^^
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Am 27.09.2017, Secrecy1
hey
danke für die Antwort!
Ich finde das super cool das du das als Buch drucken lässt!
Wie haben ein Schulbibliothek und ich kann da mal fragen ob die das Buch kaufen kann! Kann man es denn schon im Internet finden?
LG Secrecy
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Am 22.09.2017, Theresbeautyineverything
Hallo, Secrecy1
Das liegt daran, dass ich das ganze als Buch drucken lasse. Das hier ist lediglich eine Leseprobe vom fertigen Buch. Wenn alles gut läuft, kannst du dir "Immortals" ab dem 20. November als ebook und Taschenbuch kaufen. ^^
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Am 15.09.2017, Secrecy1
Hey
ich bin gerade echt irritiert, denn als ich das letzte mal hier war habe ich Immortls 23 gelesen. Und jetzt ist keine Spur mehr von der ganzen Gschichte da...
LG Secrecy