
Suppentopf

Text
Die Weihnachtsgesellschaft sass um den grossen Tisch, den Oma Trude mit ihrem besten Silberbesteck gedeckt hatte. Alle waren angespannt und bemühten sich, ihre Teller zu bestaunen, etwas in ihrer Tasche zu suchen oder leise zu hüsteln. Hätte jemand einen Bissen der Luft probiert, hätte er den sauren Geschmack der Anspannung, das kräftige, metallene Aroma der Abscheu und das bittersüsse der falschen Höflichkeit schmecken können. Doch kein Gast hatte genügend Fantasie, um einen Bissen Luft zu nehmen.
Als Oma Trude mit der grossen Suppenterrine aus Porzellan ins Zimmer kam, rutschten alle höflich räuspernd zurück. Oma Trude stellte das Gefäss auf ein selbstgehäkeltes Untersetzerchen und öffnete den Deckel. Die Terrine war leer. Unbeirrt dessen begann Oma Trude mit einem grossen Suppenlöffel die nicht vorhandene Suppe in ihre besten Porzellanteller zu giessen. Die Gesellschaft sah sich an, doch niemand wagte es, etwas einzuwenden. Jeder hoffte auf den grössten Anteil des Erbes und wollte die alte Dame nicht verärgern. So begannen sie zu essen. Sie schmeckten nichts. Wieder fehlte den Sitzenden der Mut zum Unrealistischen, der sie die Leere ihrer eigenen Seelen auf der Zunge hätte schmecken lassen können.
Lg Knjiga
du kannst mega tolle Geschichten schreiben!
Ich hab schon mehrere Texte von dir Gelesen und fand sie immer wieder toll!
GLG Pferdegirl
Dieser wurde vor einer Weile ja auch für den Countdown/Jahresrückblick ausgewählt. Wir hätten hier nun noch eine Frage dazu. Kannst du bitte mit uns Kontakt aufnehmen, Lunacat? Könntest du dich bitte per Mail bei anina.peter@infoklick.ch melden? Danke vielmals! Weiterhin gutes Texten!