Ein besseres Leben

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Niki
Veröffentlicht: 16.01.2016 18:14
Aktualisiert: 16.01.2016 18:14
Memories
Thema Mut 2020
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Kurzbeschrieb:
Eine junge Frau aus den Bergen Asiens beginnt einen neuen Lebenschabschnitt. Sie verlässt ihre verarmte Heimat und macht sich auf den Weg in die Stadt, auf der Suche nach Hoffnung.

Text

Ein besseres Leben

 

Geistesabwesend nehme ich wahr, wie die, über die zurückgelegten Kilometer entstandenen, Blasen an meinen Versen aufplatzen. Warmes Blut benetzt das abgetragene Leder meiner Schuhe. Sie sind verschlissen, die Sohle kaum mehr existierend und ich werde eindeutig keinen weiteren Regenfall mit trockenen Füssen überstehen. Kurz, man könnte glauben, sie seien seit Jahren täglich getragen worden.

Nun, das sind sie tatsächlich. Mein Onkel hat sie aus überbliebener Tierhaut angefertigt. Schuhe herzustellen bedarf tagelanger und mühsamer Arbeit, deswegen werden sie bis zum Verfall genutzt.

Ich spiele mit dem Gedanken, sie einfach auszuziehen und barfuss weiterzugehen, doch der mit leeren Aludosen und Glassplittern übersäte Gehweg rät anders. Den ganzen langen Weg hierher habe ich relativ gut überstanden, also kann mir auch der noch bevorstehende kleine Rest nichts mehr anhaben.

Ehe ich mir bewusst geworden bin, was auf mich zukommt, befinde ich mich inmitten grossen Chaos und Tumults. Um mich herum erstreckt sich eine gewaltige, endlos erscheinende Silhouette von Gebäuden, gigantischer als ein Berg. Ein lautes Gemisch aus Tierlauten, energischen Diskussionen und fröhlicher Musik dringt an mein Ohr. Stadtbewohner fegen durch die Strassen und verschwinden Sekunden später in der Menschenmenge. Tiere, die denen auf den Zeichnungen meiner Grossmutter ähneln, schlendern gelassen durch die Gegend, lassen sich nicht von der Hetzerei der Leute stören. An jeder Ecke entdecke ich aufs Neue kleine Läden und Stände mit köstlich duftenden Leckereien, von denen ich jedoch nur die Wenigstens wiederkenne. Am liebsten würde ich augenblicklich zugreifen, doch mit dem Gedanken an die lächerlich kleine Geldsumme, die ich mit mir führe, halte ich mich etwas enttäuscht zurück.

Dieser Ort ist noch viel imposanter, beeindruckender und schneller, als ich es mir je erträumt habe. Die kolossalen Bauten, die unfassbare Grösse der Stadt scheinen mir unglaublich irreal.

Und erst die Menschen, sie sind so anders. Jedermann hastet gestresst umher, mit gesenkten Köpfen, scheinen keine Zeit zu haben.

Für jemanden, der in einem abgeschiedenen Weiler grossgezogen wurde und diesen bis vor wenigen Tagen nie verlassen hat, wirkt diese aufregende Umgebung wie eine neue Welt.

Mehr als alles andere verkörpert er jedoch eines: Hoffnung.

 

Dort, wo ich herkomme ist jede Hoffnung verloren. Mein ganzes bisheriges Leben habe ich in Kärglichkeit und Bedrängnis verbracht. Kaum eine Menschenseele hält sich heute noch in den verarmten Berggegenden Asiens auf. Jeder kennt jeden und man lebt von dem, was die Natur zu bieten hat. Vor allen Dingen ist man keines Falls dazu vorgesehen, diese Heimat jemals hinter sich zu lassen. Zuhause wurde kaum von der Stadt erzählt. Ich wusste, dass sie existiert. Das ist alles.

Doch mein Wunsch nach einer Zukunft frei von Armut hat mich von zu Hause weggetrieben. Gegen den Willen meiner Eltern habe ich meine Ziege verkauft und bin gen Westen aufgebrochen. Ich habe mich aufgemacht ins Ungewisse, risikofreudig und in dem Glauben an die Existenz eines besseren Lebens.

 

Die Schönheit dieser Stadt hat mich in ihren Bann gezogen. Staunend und mit offenen Augen erkunde ich den Ort, den ich in nächster Zeit mein Zuhause nennen möchte. Wie lange und wo genau ich mich hier aufhalten werde ist noch unentschieden. Darüber habe ich mir soweit keinerlei Gedanken gemacht, schliesslich hatte ich keinen Schimmer, was mich erwarten würde.

Während ich mich vollständig der Faszination für diesen wundervollen Anblick hingebe, versinke ich langsam in tiefe Tagträumerei. Wo werde ich diese Nacht verbringen? Wovon soll ich leben? Wird es mir gelingen, einen Job zu finden? Hat mein Leben in der Stadt überhaupt Chancen auf eine Zukunft?

Fragen, die ich bis hierher ignoriert habe, lassen mir schwer ums Herz werden. Nur sehr ungern lasse ich die Realität von meinen Vorstellungen abweichen. Auf meiner ganzen Reise war mir klar, dass der Zeitpunkt kommen würde. Ich wünsche mir, ich hätte diese Angelegenheiten nicht so lange aufgeschoben. Jetzt muss ich mir Mühe geben, mit dieser Situation bestmöglich klar zu kommen.

Mit dem Einbruch der Dunkelheit beginne ich schliesslich, mir ernsthafte Sorgen zu machen. Es würde bestimmt kalt und ungemütlich sein, die Nacht mitten auf der Strasse in einer unbekannten Stadt zu verbringen. Niedergeschlagen begebe ich mich in ein weniger belebtes, ruhigeres Viertel. Ich muss nachdenken. Erschöpft von der anstrengen Reise lasse ich mich auf einer Bank nieder, schliesse die Augen und versuche, wenn auch erfolglos, mich zu entspannen.

Keine zehn Sekunden sind vergangen, als mich überraschend ein greller Schrei aufzucken lässt. Urplötzlich hat sich eine Gruppe Menschen in einem leicht versteckten Winkel angehäuft. Wildes Durcheinander, aufgeregtes Gerede und Gekreische hat sich rasch aus der mit Vogelgezwitscher erfüllten Stille entwickelt.

Dankbar für die Möglichkeit, meinen Kummer für eine Weile verdrängen zu können, springe ich auf und spurte wagemutig zu der Stelle, an der panische Schreie die Luft ersticken. Die Menschenmenge verdeckt die Ursache des ganzen Tumults. Aufgrund meiner nicht sehr vorteilhaften Grösse kann ich von hier hinten überhaupt nichts erkennen. Ich bugsiere mich durch die immer grösser werdende Ansammlung, bis ich nach ganz vorn gelange und abrupt stehenbleibe.

Ein grausames Szenario, das ich nie in meinem Leben vergessen werde, spielt sich vor meinen Augen ab. Auf dem Boden kauert ein schmächtiges Mädchen, keine zehn Jahre alt, dem der Schreck noch tief in den Knochen zu sitzen scheint. Sie wimmert kläglich und zittert am ganzen Körper. Auf ihrem Arm klafft eine breite, heftig blutende Verwundung. Stark ausgeprägte Abdrücke, angereiht in Form eines Kiefers, weisen auf eine Bisswunde hin.

“Böser Hund…grosser böser Hund!” Ein feingliedriger Mann, den ich zuvor nicht bemerkt habe, kauert dicht an der Seite des Mädchens und drückt ihre gesunde Hand so fest, dass sich seine Fingerbeeren in ihr Fleisch bohren. Ein Paar verzweifelter Augen starrt mich erwartungsvoll an. Bewegungsunfähig stehe ich da, noch immer ausser mir vor Schreck. Ich brauche eine Weile, um mir bewusst zu werden, was sich vor meinen Augen abspielt. Ein Bild, das mir ganz und gar nicht fremd ist.

“Ich kann helfen!”, krächze ich beunruhigt. In meinem Leben habe ich des Öfteren meiner Grossmutter beim Verarzten von Bisswunden, die in den Bergen keine Seltenheit sind, zugesehen.

Kurzerhand knie ich mich dem Mädchen gegenüber auf den kalten Pflasterboden, streife mir mein Halstuch über den Kopf, rolle es zu einer langgezogenen dicken Wurst zusammen und drücke sie mit einem starken Griff auf die Wunde, wobei das Mädchen qualvoll aufschreit. “Das hilft!”, versichere ich mit sanften Worten. Ich blicke in ihre Augen, um ihr Mut zu machen, doch sie sind gefüllt mit Angst und Panik.

Als wäre es ein Instinkt, weiss ich augenblicklich, was in diesem Moment zu tun ist. Ich nehme all meinen Mut zusammen und beginne, womit meine Grossmutter in dieser heiklen Situation schon lange begonnen hätte.

Ich fange an zu singen.

Ein vertrautes Lied, das mich durch meine eigene Kindheit begleitet hat. Zunächst etwas wackelig, doch als sich das Mädchen nach nur wenigen Tönen merklich beruhigt, werde ich selbstbewusster und die Melodie klarer. Der Mann, der sich kaum gerührt hat, traut sich um ein schwaches Lächeln. Ein wohliges Gefühl überkommt mich, ich erwidere seine Geste.

Der Sanitäter, der mittlerweile am Ort des Geschehens eingetroffen ist, bahnt sich einen Weg durch die Menschenmenge. Er lässt sich mit einer bewundernswerten Gelassenheit neben uns nieder. Während er Nadel und Faden zückt zwinkert er dem kleinen Mädchen zu. Alles ist gut.

Ich fühle mich besser denn je bei dem Gedanken, im Leben eines Anderen einen kleinen aber wertvollen Unterschied gemacht zu haben. Zum ersten Mal seit Langem ist sie so nahe, dass ich das Gefühl habe, ich könnte einfach nach ihr fassen und mich für immer an ihr festklammern.

Ich sehe Hoffnung.

 

 

Kommentare

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Am 17.01.2016, Starlight
Hallo Niki
Ich finde deine Idee super und die Geschichte ist sehr spannend geschrieben.
Den Schluss finde ich besonders gut. :-)
LG
Starlight
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Am 17.01.2016, XredX
Deine Art zu schreiben gefällt mir wirklich sehr, vor allem die vielen Details, die du beschreibst.Die Vielfalt deiner Worte beeindruckt mich sehr. Nur der Inhalt sagt mir weniger zu, aber das ist Geschmacksache :D