Herbstträume

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Lily
Veröffentlicht: 16.04.2012 17:53
Aktualisiert: 31.07.2012 13:56
Kategorie: Dies & Das
Magazin schreibdichfrei
Sternschnuppen und verborgene Schätze
(Band 1, 2017, Seite 8)
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Text

Ich sitze an meinem Schreibtisch und schaue zum Fenster hinaus. Draussen ist alles grau in grau und es regnet, wie das im Herbst so üblich ist. Ich beobachte den grauen Himmel und die bunten Blätter der Bäume davor. Hoch am Himmel sehe ich Krähen und einen Milan kreisen. Die Vögel scheinen sich zu streiten. Ich lasse meine Gedanken schweifen, erinnere mich an gestern und träume von morgen.

In meinem Zimmer ist es gemütlich. Es ist voll von Büchern, Spielen, Kleidern, Musikinstrumenten und Stofftieren, noch ein richtiges Kinderzimmer. Alles was man sich wünschen kann, findet man darin. Und doch…

Gestern dachte ich an unser Patenkind in den Philippinen, dort wo es immer wieder Stürme, Überschwemmungen und Hungersnöte gibt. Ich dachte daran, wie sich Camilo wohl über ein Zimmer wie meines freuen würde. Aber er wird niemals die Chance haben, in solchem Luxus zu leben wie ich. Traurig… Ich wünschte mir nichts mehr, als daran etwas ändern zu können!

Doch ich kann nichts tun. Ausser ihm meine Liebe mit auf den Weg zu geben. Ich blicke kurz hinunter auf den Schreibtisch. Dort liegen ein englisches Wörterbuch und mein angefangener Brief, geschrieben auf dem buntesten Briefpapier, dass ich finden konnte. „Dear Camilo, I’m so glad…“ Glücklich, Kontakt zu diesem Kind zu haben.

Mein Blick wandert wieder zum Fenster und den Krähen, die immer noch den stolzen Milan ärgern. Seine Schönheit und Grösse nützt ihm nichts. Trotzdem, er scheint so gelassen zu sein, er verliert nichts von seiner Würde. Ich schaue dem König der Lüfte oft zu, ich mag ihn. Ich mag seine Art frei zu sein und die Welt weise von oben zu betrachten.

Was er wohl sieht, hier unten bei uns Menschen? Langsam stehe ich auf, mache das Fenster auf und klettere hinaus. Der kürzeste Weg auf den Balkon. Ich lehne über die Brüstung und schaue in den Garten und auf die Strasse hinunter.

Im Garten spielen Kinder in Regenjacken Fussball, einige kenne ich. Eine Weile schaue ich ihnen zu. Dann schaue ich wieder hoch zum Himmel und lasse mir Regentropfen ins Gesicht fallen. Ich geniesse das kühle Nass auf meiner Haut. Ich höre Schreien, Kindergebrüll. Schnell schaue ich hinunter, wo die Kinder es den Vögeln in der Luft nachmachen.

Sie streiten, alle stürzen sich auf einen Jungen. Francesco, ein kleiner Italiener. Er fällt hin und weint, rennt weg, verschwindet aus meinem Blickfeld. Die Tränen passen zu dem Wetter, denke ich. Aber wie schön wäre doch eine Welt ohne Tränen. Wir Menschen nehmen immer als so ernst, wir vergessen, dass Leben Spass macht.

 

Träumend stehe ich auf dem Balkon, während der Regen auf meinen Kopf prasselt und der Wind an meinen Haaren zupft.

Ich träume von Camilo, Francesco und meinen eigenen Brüdern. Wie sie gross werden in einer Welt, in der die Menschen lachen statt zu streiten. Wir haben so viel geschenkt bekommen, wir Erdenbewohner. Ich wünsche mir, dass wir lernen, das „Geben seliger ist als Nehmen“, wie es schon ein altes Sprichwort sagt. Wenn jemand lacht, gibt er der Welt ein bisschen Licht, Wärme und Freude zurück. Aber streiten ist nehmen.

Ich schaue hinauf zu meinem Milan. Ich träume davon genau so frei zu sein und fliegen zu können. Befreit so zu sein wie ich bin und wie ich es mir wünsche. Mir nichts daraus zu machen, was die anderen sagen.

Die Krähen lassen den Milan in Ruhe, sie stürzen hinunter und landen unter dem Apfelbaum im Garten des Nachbarn. Der Milan blickt kurz hinunter, dann zieht er einen Kreis über den Garten und fliegt über das Hausdach davon. Ich schaue ihm nach bis er verschwunden ist.

Plötzlich spüre ich die Kälte, bemerke die nassen Haare in meinem Nacken und wie klamm meine Finger sind. Ich klettere durch das Fenster ins Haus zurück. Wasser rinnt hinunter auf den Boden und bildet kleine Flüsse und Seen auf dem Parkett. Ich trockne mich ab, ziehe mein Pyjama an.

Ich setze mich wieder an den Schreibtisch. Vor dem Fenster sehe ich nun nichts mehr ausser dem grau des Himmels und den bunten Blättern in den Wipfeln der Bäume, die sich im Wind bewegen. Noch einige Momente lasse ich meine Gedanken ungehindert ziehen. Dann setze ich mich aufrecht und beuge mich über das bunte Papier auf der weissen Tischplatte. Bunt auf grau draussen, bunt auf weiss hier drinnen.

Ich nehme meinen Fülli in die Hand und schreibe. Ab und zu blättere ich durch das gelbe Buch vor mir, auf der Suche nach passenden Worten. Worten, die beschreiben könne, was ich fühle.

Einige Zeit später lege ich den Stift zur Seite, falte das Papier sorgfältig zusammen und stecke es in einen Briefumschlag. Aus der Schublade angle ich meine Farbstifte hervor. Ich male für Camilo ein Bild mit lachenden Menschen, ihn, mich, unsere Familien und unsere besten Freunde. Oben drüber ein bunter Regenbogen im sonnigen Himmel und ein Smiley-Ballon mit der Aufschrift: „My Dream…“

Kommentare

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Am 03.12.2019, Pferdegirl
Liebe Lily
Der Text ist einfach fantastisch
Glg Pferdegirl
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Am 10.12.2013, cat
hey lily
ich weiss nicht, ob du das jemals noch lesen wirst, aber ich hoffe es. der text ist wirklich toll, ich kann mir genau vorstellen, was du meinst. ich finde du hast wirklich talent.
sincerely cat
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Am 25.08.2013, Natalie
Dieser Text ist großartig. Ich liebe die Art wie du schreibst und ich "liebe" den Inhalt dieses Textes. Man kann ewig darüber nachdenken...
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Am 23.07.2012, Lara
Hallo Lily,
Ich finde den Text sehr schön. Eigentlich ist es traurig, aber leider entspricht er der Wahrheit. Gratulation zum ersten Platz, welchen dieser Text eindeutig verdient hat.
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Am 25.06.2012, Feder
Liebe Lily,
das ist ja toll - danke, dass du uns davon erzählst und natürlich auch von unserer Seite herzliche Gratulation zu der Auszeichnung!