Stilleben ohne mich

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O. Syrah
Veröffentlicht: 18.09.2012 23:25
Aktualisiert: 18.09.2012 23:25
7. Platz Schreibwettbewerb Kanton Solothurn 2012
Thema: "I have a dream - den Platz, den ich mir wünsche"
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Text

Stillleben ohne mich


Es ist ein warmer Frühlingsabend, einer der ersten in diesem Jahr, und die tiefstehende Sonne
spendet gerade noch genug Wärme, sodass man es sich ohne Jacke draussen gemütlich machen
kann. Es scheint ruhig zu sein, doch genaueres Lauschen offenbart einem zigtausend belanglose
Hintergrundgeräusche: Vogelpfeifen, Kirchengeläut, der Lärm der Hauptstrasse. Ich höre eine Biene
surren, und irgendwo in meinem Rücken, ein, zwei Garten hinter mir, muss eine Gruppe von
Freunden zusammensitzen. Sie sind zu wenig nah, dass ich ihre Unterhaltung verfolgen könnte;
bloss Wortfetzen, Gelächter, einige Sätze dringen zu mir durch.
Ich meine, zwei weibliche und eine männliche Stimme zu hören, doch das Gelächter hört sich nach
mehr als drei Personen an. Ob die anderen wohl schweigen mögen? Einen grossen Tisch mit sechs
Leuten stelle ich mir vor, drei Pärchen im mittleren Alter, um die dreissig, womöglich vierzig Jahre
alt. Vielleicht haben sie Kinder, die um sie herumtollen. Oder einen verspielten Hund. Ich lausche
konzentriert, kann aber weder Hunde- noch Kinderlärm hören. Nun gut, muss ja nicht immer alles
sein.
Weiteres Lachen. Ich will mithören, mitlachen, bin aber zu weit weg, um der Unterhaltung zu
folgen. Ich spitze meine Ohren, halte den Atem an, strenge mich an. Warte auf weitere Satzteile,
Wortfetzen, Laute.
Ich sehe eine Gruppe von Freunden an einem Gartentisch zusammensitzen. Reste eines Grillabends
sind auf dem Holztisch vorzufinden; eine Bratwurst, ein halbes Kotelett, einige Hühnerknochen und
eine Platte mit kaum angerührter Rohkost. Eine der Frauen greift von Zeit zu Zeit nach den roten
Peperonistreifen, um abwesend daran zu knabbern. Senf- und Ketchupreste kleben an den
gebrauchten Papptellern, die zwischen einigen leeren Bierflaschen auf dem Tisch stehen. Mir ein
detailreiches Szenenbild ausmalend glaube ich fast, den unvergleichlichen Geruch eines Grillabends
riechen zu können, doch ich öffne die Augen, und die Luft riecht weder nach Rauch noch Fleisch,
und der gräuliche Schleier der im Wind umherwirbelnden Asche ist verschwunden.
Einzig das angeregte Gespräch der Nachbarn, das gelegentliche Auflachen der Freunde bleibt übrig.
Meinen Kopf über die Schulter wendend drehe ich mich langsam um und starre auf die grüne
Buchshecke, die mich von der fröhlichen Gruppe trennt, starre sie an ohne zu blinzeln und stehe
schliesslich auf, um mich so nahe wie möglich an die grüne Trennwand zu stellen, in der Hoffnung,
der Konversation voll und ganz folgen zu können. Beinahe, als ob ich an ihr teilhaben würde.
Nervös meine Hände knetend warte ich auf die nächsten Worte.
Laut für Laut klingt an mein Ohr. Wörter, Worte, Sätze.
Ich höre zu, erfasse, verarbeite. Bevor mein Gehirn überhaupt realisiert, was es soeben gehört hat,
lässt meine Körper jegliche Anspannung von sich gehen. Zum plumpen Mehlsack werde ich. Doch
es ist nicht wohliger Entspannung, Erleichterung gar, die mich durchflutet; Enttäuschung zieht
meine Schultern zum Boden hinunter.
Eine unsichtbare Kraft stemmt sich gegen meine Brust; mir fällt das Atmen schwer, ich schlucke
und hole tief Luft. Nichts ändert sich. Ein Klumpen formt sich in meinem Hals, er wächst, will
meinen Hals verstopfen und mich zum Ersticken zwingen. Ich fühle mich dazu bewegt, panisch zu
hecheln, schaffe es aber, dem Drang zu widerstehen. Einatmen, ausatmen. Schlucken. Mit
langsamen, schwerfälligen Schritten schleppe ich mich zurück zur Bank. Plump wie ein Sack fauler
Kartoffeln falle ich darauf nieder und bleibe sitzen, reglos.
Die Unterhaltung im Nachbargarten ist nicht verstummt, doch ich höre sie nur noch durch einen
gedämpften Schleier. Sie klingt dumpf, fern, fremd. Die Hände über beide Ohren legend schliesse
ich die fremden Wörter aus meiner Welt. Zurück bleibe ich, alleine.
Ich und der Garten und der Frühlingsabend, und alles andere ist fremd.

Kommentare

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Am 07.03.2013, MiaWallace
die empfindungen tropfen in der beschreibung auf einen nieder. ein
schöner text.
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Am 16.10.2012, tintenfass
du schreibst sehr schön und geheimnissvoll. der Text macht mich neugierig, was wohl der Grund für den Stimmungswechsel der ich-Figur gewesen sein mag.