Nur ein warmes Lächeln

Ich kenne einen Jungen, den ich nie besonders mochte. Ich werde ihn Raffael nennen. Besagter Raffael war zwei Jahre in derselben Klasse wie ich, bis er ein Jahr wiederholte. Mittlerweile begegnen wir uns nur noch manchmal auf dem Flur, grüssen uns, wie man das halt so macht. Manchmal nur mit dem Heben einer Hand, manchmal mit einem Lächeln, wenn wir Zeit haben, wechseln wir auch manchmal ein oder zwei Worte.
Ich habe geschrieben, dass ich ihn nicht besonders mag. Das ist richtig, doch ich verabscheue ihn auch nicht. Er war der unbeliebte kleine Junge in unserer Klasse, hat mich mit seinem Geschwätz oft einfach nur genervt. Ich wette, auch ihr kennt solche Leute. Das allein ist noch kein Grund, einen Text zu schreiben.

Und auch an dem, was heute Morgen passiert ist, ist an sich noch nichts Aussergewöhnliches. Wir sind uns mal wieder auf dem Flur begegnet, er mit einigen Kollegen, ich allein und etwas gehetzt, weil in wenigen Minuten die Schule begann und ich noch viel zu weit weg von meinem Schulzimmer war. Nicht nur deswegen war meine Laune nicht die Beste.
Jedenfalls habe ich ihm wie so oft zugenickt, und er hat gelächelt, wie er es schon so oft gemacht hat. Denkt jetzt nicht, dass da irgendeine Art von Liebe oder Verliebtheit im Spiel ist, den das ist definitiv nicht der Fall. Doch in der Zehntelssekunde, in der ich ihm in die Augen geblickt habe, hatte ich das Gefühl, alles werde wärmer und schöner. Es fühlte sich an, als wäre das Sprichwort 'Augen sind das Tor zur Seele' tatsächlich wahr. Und wenn ich in diesem kurzen Moment tatsächlich seine Seele gesehen habe, ist sie wunderschön.

Ich bin weitergelaufen, bevor ich das Gefühl einordnen konnte, ich bin weitergelaufen, ohne das Lächeln zu erwidern. Doch wenn ich ihn das nächste Mal sehe, werde ich das Lächeln erwidern. So nervig er manchmal auch ist, ich will nicht, dass die Wärme in seinen Augen verschwindet, weil die Leute ihn nicht so behandeln, wie jeder Mensch es verdient.
Ich will nicht, dass die Wärme in seinen Augen verschwindet, so wie es bei mir nach Jahren der Kälte bereits geschehen ist.