Mein bester Freund

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Kliane
Veröffentlicht: 06.09.2012 19:45
Aktualisiert: 06.09.2012 19:45
Kategorie: Dies & Das
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Kurzbeschrieb:
Ein - vielleicht nicht ganz so einfacher - Text über zwei Freunde und über die Wut.
Er ist noch nicht ganz ausgefeilt, daher lediglich der "Rohtext".
ich freue mich über Kommentare und Bewertung etc.!

Text

Ich würde sterben. Ich war mir dessen bewusst, so wie andere wussten, dass jeden Tag von neuem die Sonne aufgeht. Es gab keinen Zweifel, ich wusste es einfach.

Ich hob eine Hand, um mich vor dem hellen Licht der Taschenlampe zu schützen, die mir in die Augen leuchtete. Ich hatte Schmerzen. Es war eine Qual, die Hand zu bewegen. Der Schmerz kroch in all meine Glieder und ich keuchte, als mir jemand meine Hand wegkickte. Der Schuh hinterliess rote Striemen auf meinem Handgelenk, Blut tropfte auf den Boden. Aber ich spürte es schon nicht mehr, als ein weiterer Schuhtritt mich in den Magen traf. Ich konnte nichts mehr denken, einzig die Qual, der Schmerz, den die vielen Tritte und Schläge verursachten, die nun alle auf einmal auf mich gefeuert wurden, beherrschten meine Gedanken. Dann verlor ich das Bewusstsein.

 

 

Vielleicht hatte ich zu hart zugeschlagen. Ich sah, wie er gequält blinzelte und sein Körper sich dann ruckartig entspannte. Schade. Ich hätte gerne noch länger gesehen, wie er mit seiner wahrscheinlich gebrochenen Hand versuchte, seine empfindlichen Augen vor dem Licht zu schützen. Ich hätte gerne noch länger zugesehen, wie er sich krümmte, wie er bei jedem Tritt jammerte und keuchte. Er hatte es verdient, er hatte verdammt nochmal jede Sekunde verdient, er durfte jetzt nicht einfach so bewusstlos werden.

„Wach auf!“, schrie ich ihn an.

 

 

Ich sass auf der Treppe zu dem neuen Haus. Vor mir stand ein Junge. Dieser Junge. Er hatte dunkelbraun gelockte Haare und seine blauen Augen sahen mich aus seinem runden Gesicht unschuldig an.

„Wollen wir Freunde sein?“, fragte er und streckte mir seine Hand entgegen. Nach einem kurzen Zögern erwiderte ich sein offenes Lächeln und nahm seine Hand.

 

Ein lautes Knacken brachte mich grob in die Realität zurück. Der Schmerz, der nun wieder da war, war betäubend, aber das Schlimmste war, dass er mich erinnerte. Daran, dass Macht und Neid – vor allem Neid - Menschen verändern, sie Dinge tun lassen, die man nie erwartet hätte, Dinge, die weh tun. Ich wimmerte. Wieso war ich nicht schon längst gestorben? Ich konnte diesen Schmerz nicht länger ertragen.

„Bitte...“, flehte ich, obwohl ich keine Gnade erwartete.

„Bereust du?“, fragte eine bekannte Stimme nahe an meinem rechten Ohr. Ich antwortete nicht und bekam dafür noch einen Schlag in die untere Magengegend. Ich wusste nicht, was ich bereuen sollte. Das, das ich war? Niemals. Manche Dinge sind einfach wichtig. Für manche Dinge lohnt es sich vielleicht sogar zu sterben. Ich war gequält, ich war gebrochen und doch wollte ich meinen letzten Tropfen Stolz, der mir geblieben war, nicht verlieren.

„Du unnützes Stück Dreck, du Wurm!“, schrie die dunkle Gestalt vor mir, als er mir ein blaues Auge verpasste. Mein Kopf schlug gegen die Mauer hinter mir. Ich war in die Enge getrieben. Ich war verloren. Wie können Menschen nur so grausam sein?

 

 

Trotz allem war immer noch dieses hochnäsig-arrogante Funkeln in seinen Augen. Irgendwo in diesem wunden, geschundenen Körper war noch Stolz. Ich konnte es kaum fassen. Das war es, das ich so sehr hasste. Dieser Abschaum, dieses nutzlose Stück Dreck – ja nicht einmal Mensch konnte man sowas meiner Meinung nach nennen – hatte ernsthaft noch den Nerv, sich gegen mich zu stellen. Ich wollte, dass er aufgab. Genau das war es, das ich so sehr begehrte. Ich wollte, dass dieses Funkeln aus seinen Augen verschwand, ich wollte, dass sein Stolz starb, ich wollte ihn in seinen Augen erlöschen sehen. Er sollte nicht sterben, denn nur lebend konnte er leiden. Leiden, so wie ich es getan hatte. Ich schlug und trat ihn. All meinen Groll auf diesen Menschen liess ich heraus. Ich stellte mir selbst niemals die Frage, ob es richtig war, mitten in der Nacht seine glühende Wut an einem vielleicht Unschuldigen auszulassen. Vielleicht hatte ich Angst vor der Antwort. Vielleicht lag das ja daran, dass ich sie tief in meinem Innern kannte. Aber es war zu spät und ausserdem überschattete mein Zorn alles andere.

Nicht umsonst heisst es blinde Wut. Denn vor Wut werden Menschen blind. Sie tun Dinge, die sie sonst nicht täten. Sie denken nicht nach, sie handeln aus oberflächlichem Empfinden.

Ich war wieder dort. Mein Zorn hatte mich zurückgebracht. Das gleissend weisse Licht hatte mich zurückgebracht. Ich hatte den schwarzen Punkt in meinem Innern erreicht, den wunden Punkt.

 

Er war immer da gewesen. Aber jetzt war er es nicht. Er hatte mich allein gelassen.  Statt bei mir zu sein, war er bei all seinen Kumpanen und Freundinnen. Die mich verachteten. Dabei war er von Anfang an mein Freund gewesen. Meiner ganz allein. Mein einziger Freund. Mein bester Freund. Bis jetzt. Ich schluchzte. Mit meinen Armen umklammerte ich mich selbst und wiegte langsam vor und zurück. Es tat so sehr weh. Allein zu sein. Vergessen zu sein.

Damals wusste ich noch nicht, dass es noch viel schlimmer werden würde.

 

Da lag er nun. Auf dem Boden, jämmerlich im Dreck. Seine schönen Kleider waren verschmutzt und in seinem Gesicht mischte sich Erde mit seinem Blut, das aus vielen kleinen Wunden lief. Es war erbärmlich. Dieses Bild weckte etwas Ungeahntes in mir. Einen Hauch von Gnade. Und es erinnerte mich.

 

Damals war ich derjenige gewesen, der im Dreck gelegen hatte. Ich war überfallen worden, hatte die grössten Ängste meines Lebens ertragen müssen, hatte gebettelt, gejammert und geweint. Ich war am Boden zerstört. Wortwörtlich. Und da sah ich ihn.

Ich war froh, unglaublich froh, dass er den Weg hierher gefunden hatte. Er würde mir helfen. Mein bester Freund würde mich retten, mich trösten. Er lief in einer kleinen Gruppe von Menschen. Ich erkannte darunter einige seiner sogenannten neuen Freunde. Sie lachten und plapperten laut miteinander. Ein Mädchen in einem kurzen blauen Rock und einer schicken silbernen Bluse hatte sich bei ihm eingehakt. Als sie bis auf einige Meter zu mir herangekommen waren, stiess sie einen spitzen Schrei aus und klammerte sich an ihn. „Oh mein Gott- da liegt jemand!“, rief sie hysterisch. Dann rannten sie zu mir. Endlich. Ich brauchte Hilfe. Ich konnte mich kaum bewegen, ich brauchte einen Arzt. „Igitt, der ist total dreckig“, angeekelt spitzte sie die Lippen. Mein Kumpel an ihrer Seite beugte sich über mich. Sein Gesicht verzog sich erschrocken zu einer Grimasse, als er mich erkannte. Dann trat er schnell einen Schritt zurück. „Sag mal, du kennst den doch nicht etwa, so jemanden?“, fragte sie. Und mein bester Freund schüttelte den Kopf und antwortete: „Willst du die Polizei rufen, um diesem armen Kerl zu helfen? Wenn nicht, komm mit, die Party soll doch nicht ohne uns enden.“ Sie sah mich ein letztes Mal mitleidig an, dann drehte auch sie mir den Rücken zu und rannte ihren Freunden hinterher.

Da lag ich nun. Ich konnte es nicht glauben. Mein bester Freund hatte mich verraten. Ich war traurig. Unendlich traurig. Es frass mich auf und ich erstickte in einer Welle roter Glut.

 

 

Der Schmerz. Er war so allgegenwärtig, dass ich alles andere vergass. Es war nur noch diese rote Welle in meinem Kopf. Nur noch die Schläge und Tritte.

Und dann hörte es auf. Ich zögerte. War ich endlich gestorben? Erlöst von ewigem Leiden? Ich lauschte. Und dann hörte ich eine Stimme. Leise, traurig aber ohne bereuen.

„Jetzt sind wir quitt.“

Und in diesem Augenblick erkannte ich die Stimme. Das war mein Freund, mein bester Freund. Ich begann zu weinen. Wieso? Ich war doch immer für ihn da gewesen. Oder auch weniger. Eher weniger. Ja, vielleicht hatte ich ihn in letzter Zeit vergessen. Und da erinnerte ich mich. Ich war nicht für ihn da gewesen. Ich hatte ihn verraten. In jener Nacht hatte ich ihn im Dreck liegen gelassen. So wie ich jetzt hier lag. Nur, weil ich vor den anderen nicht mein Gesicht hatte verlieren wollen. Er hatte mich noch einmal damit konfrontiert. Irgendwie hatte ich ja gewusst, dass es nicht richtig gewesen war. Aber dieses Gefühl hatte ich verdrängt. Ich hatte es tief in meinem Kopf in eine kleine dunkle Schublade gesteckt und darin eingeschlossen. Für immer, so hatte ich geglaubt. Aber manchmal kommt man nicht einmal umher sich selbst anzulügen. Die Erinnerung, die Lüge, ein stechender Schmerz, anders als all der vorherige durchfuhr mich.

Und ich bereute.

 

 

Ich stand auf. Endlich hatte die gute Seite in mir gewonnen. Das Mitleid hatte den Sieg errungen. Es war zu viel geworden. Ich hatte aufhören müssen. Eine einsame Träne perlte meine Wange hinab.

„W..W..War…Warte.“, hörte ich die leise Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um und ging mit langsamen Schritten zurück. In die dunkle Gasse. Zu dem auf den Boden Liegenden. Er sah mich an. Und ich sah, dass sein Stolz gebrochen war. Ich sah, dass er endlich verstanden hatte, zu spät verstanden hatte. Viel zu spät.

„Es tut mir so leid. All … das.“, sagte er.

Anhand der Situation war es beinahe lächerlich, dass er sich entschuldigte. Aber es war nötig. Ohne zu Zögern akzeptierte ich seine Entschuldigung.

„Kannst du laufen?“, fragte ich und Hoffnung schwang in meiner Stimme mit.

„Ich denke ja.“, antwortete er und lächelte.

Ich bückte mich und streckte ihm meine Hand entgegen. „Wollen wir Freunde sein?“, fragte er und ergriff sie, als ich bejahte.

Kommentare

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Am 12.09.2012, tintenfass
Vielen Dank für diesen eindrücklichen Text.
es ist eine sehr kraftvolle und heftige Geschichte die zum Denken anregt. Ich habe sie in einem Zug durchgelesen.

Eventuell wird etwas zuviel erklärt, was die einzelnen Personen denken und fühlen. Ich finde es immer spannend, wenn der Leser nur Andeutungen darüber erhält und sich seine eigenen Gedanken zu den Beweggründen der Figuren machen muss/kann. Dann behält die Geschichte und die Protagonisten für mich einen grösseren Zauber.